Der Utilitarismus und seine Folgen

Einen sehr langen und interessanten Kommentar zu diesem Artikel habe ich erhalten, den ich der breiteren Leserschaft nicht vorenthalten möchte, da er ganz wichtige Punkte enthält, über die ich ohnehin noch schreiben wollte. Ich teile den Kommentar in einige Abschnitte, auf die ich dann eine Antwort gebe (es empfiehlt sich als Kontext den Artikel und die dazu bereits ausgetauschten Kommentare zu lesen):

Nochmal Utilitarismus vs deontologische Ethik(en): Vielleicht können wir uns ja doch evtl. darauf einigen, dass die Dinge nicht einfach, sondern komplex sind? – Zum Beispiel kann man im Rahmen einer utilitaristischen Argumentation zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen: Während der eine bereit ist, anderes Leben zu opfern zum Wohl eines “wertvolleren” Lebens, kann ein anderer, ebenfalls utiltaristisch Argumentierender eben gerade dieses “wertvollere Leben” als nicht so wertvoll ansehen und dann anders entscheiden.

Genau das ist beim Utilitarismus richtig. Moral wird zu einer Frage persönlicher Präferenzen. Ich persönlich finde die Folge x gerade noch akzeptabel, weil etwas weniger schlecht als Folge y, und du siehst es umgekehrt. Moral ist im Utilitarismus letztlich notwendigerweise relativ, weil es keine allgemein akzeptable Präferenzordnung geben kann. Nutzen und Folgen sind irreduzibel und komplex. Zudem kann man die Folgen einer Handlung in realen Situationen einfach nicht verlässlich absehen. Als Grundlage einer Ethik eignen sie sich damit nicht. Wie gesagt, ich möchte damit gar nicht leugnen, dass man die Folgen einer Handlung betrachten muss, um in konkreten Situationen zu richtigen ethischen Urteilen zu kommen. Doch die Folgenbetrachtung nimmt den ihr angemessenen Platz in der ethischen Reflektion erst dann ein, wenn sie sich der vorgängigen Untersuchung der Frage, welche Arten von Handlungen denn niemals zulässig sein können, unterordnet. Beim intrinsischen Übel endet die Folgenbetrachtung, weil man sonst auch Judas freisprechen müsste: Immerhin hat er durch seinen Verrat wesentlich dazu beigetragen, dass Christus gekreuzigt wurde, auferstehen konnte und die Menschen von ihren Sünden erlöst. Judas ist der Schutzpatron des Utilitarismus.

Bei solchen Fallbeispielen, die ja in der Theorie immer eine argumentative Rolle spielen, muss man bedenken, dass sie eben nicht wirklich “praktisch” sind (nicht eine reale Lebenssituation darstellen), sondern künstlich zum Zweck der Klärung einer Position aufgestellt werden. Was ich damit sagen will, ist, dass in einer realen Situation eben situationsbezogen überlegt und gehandelt werden sollte – und das kann man im vorhinein eben nicht für alle Fälle theoretisch “festklopfen”.

Selbstverständlich sind Fallbeispiele immer problematisch. Der Verzicht auf Fallbeispiele ist besonders problematisch für den Utilitaristen, der nämlich allein im theoretischen Elfenbeinturm die Folgen seines Handelns zuverlässig ermessen kann. In der Realität stützt er seine Ethik auf oft falsche, immer aber zweifelhafte Folgenerwartungen. Die reale Komplexität menschlichen Nutzens und wirklicher Folgen verunmöglicht die Findung korrekter ethischer Urteile nach utilitaristischem Maßstab. Er scheitert bereits an den immanenten Forderungen seiner eigenen Theorie. Naturrechtliche Ethik hat dieses Problem nicht in demselben Maße. In ihr ist nämlich durchaus Platz für eine gewisse Flexibilität in konkreten Handlungen (99,9% der möglichen Handlungen sind eben nicht intrinisch falsch, so dass die Umstände durchaus wichtig für ihre moralische Beurteilung sind). Deontologische Ethiken im Gefolge Kants tendieren tatsächlich zum moralischen Rigorismus, weshalb ich sie auch nicht für den richtigen Weg halte. Doch die naturrechtliche Ethik ist nicht rigoristisch – sie hält allerdings trotzdem an der Notwendigkeit absoluter moralischer Prinzipien fest, die, in ihrer christlichen Version, als Gegebenheiten der göttlichen Schöpfungsordnung angesehen werden.

Natürlich fände ich es auch absolut unangebracht, wenn ein Seelsorger aus “Barmherzigkeit” einer vergewaltigten Frau empfehlen würde, ihr Kind abzutreiben. Aber ebenso unangebracht wäre es (das sagst Du ja selbst!), ihr in dieser Situation die “kalten” Prinzipien der Moral an den Kopf zu werfen – das wäre ziemlich lieblos. Ich plädiere dafür, in diesen Situationen mit Verständnis nach einem gangbaren Weg zu suchen – wie immer er aussehen sollte. Und Falls die Frau sich für eine Abtreibung entscheiden sollte, dann steht es uns eben nicht zu, sie moralisch zu verurteilen; denn Du kennst ja das Diktum Jesu aus der Bergpredigt: “Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet!” – Wer weiß schon, in welche Situation e r s e l b s t geraten kann und wie er dann evtl. den Moralgesetzen zuwiderhandelt …?

 Die wahren Prinzipien müssen der betroffenen Frau sanft beigebracht werden. Ihr muss jegliche Hilfe, jegliche Unterstützung angeboten werden, zu der man überhaupt fähig ist. Doch es wäre falsch, so zu tun, als ob die Abtreibung nicht immer noch ein intrinsisches Übel bliebe. Aus „Barmherzigkeit“ von der Verurteilung vorsätzlicher Tötungshandlungen gegen Unschuldige abzusehen, ist genauso absurd, wie aus „Barmherzigkeit“ eine solche Tötung zu empfehlen oder sie selbst durchzuführen. Nein, wahre Barmherzigkeit geht nicht auf Kosten des Lebens der Unschuldigen. Wahre Barmherzigkeit rettet an erster Stelle das Leben der Unschuldigen. Und wenn man Jesus zitiert, dann sollte man auch bedenken, dass das Gericht, von dem Jesus spricht, nicht die Jury der Moralphilosophen ist, sondern das göttliche Gericht, vor dem alle Menschen sich verantworten müssen. Jesus hat es mit der Ehebrecherin vorbildlich vorgemacht: Die Leute wollten sie steinigen. Er hat praktisch gesagt, man solle nicht mit Steinen werfen, wenn man im Glashaus sitzt. Aber er hat der Frau auch klar gesagt, sie solle nicht nur einfach gehen, sondern gehen und nicht mehr sündigen. Barmherzigkeit bedeutet nicht das Leugnen der Sünden, und „nicht richten“ hat nichts mit moralischer Blindheit oder Schweigen im Angesicht des Bösen zu tun, auch dann nicht, wenn die böse Handlung von einer Vergewaltigten ausgeht, die ihr Kind töten will.

Ich selbst würde dringend wollen, dass mir jemand mitteilt, wenn ich gegen das moralische Gesetz handle. Wie sollte ich sonst meine Sünden bereuen, wenn man sie mir aus „Barmherzigkeit“ verschwiege? Wahrheit und Barmherzigkeit können nicht getrennt werden. Wenn Abtreibung wirklich vorsätzliche Tötung eines Unschuldigen ist, dann ist es nicht angemessen, aus „Barmherzigkeit“ diese Tatsache zu ignorieren.

 Also eine Empfehlung an Dich (wenn ich mir das mal so erlauben darf …): Konsequente Moral als Richtschnur und Orientierung für das Leben ist unverzichtbar – und zugleich gehört in ein gelingendes Leben auch eine Herzensmilde, die Menschen in ihrer Schwachheit wahrnimmt und sie dennoch auch liebevoll annimmt. Wie das dann im einzelnen aussieht, das kann man eben nicht im vorhinein festlegen (s.o.)!

Selbstverständlichkeit gehört die Annahme der Menschen in ihrer Schwachheit dazu. Doch das bedeutet nicht, die Schwachheit nicht mehr zu benennen oder zu verschweigen. Wenn eine Frau aus Schwäche ihr Kind töten will, muss man zwei Dinge tun: Erstens, vermeiden, dass die Frau die Tötung wirklich begeht, und zweitens, die Gründe ihrer Schwachheit (in diesem Fall, die Vergewaltigung) so sanft und liebevoll wie möglich mit ihr zu besprechen und ihr bei der Überwindung ihres psychischen Notzustandes zu helfen. Wie man das konkret anstellt, kann man tatsächlich nicht im Vorhinein festlegen. Doch man kann durchaus sagen, dass es eine Weise gibt, auf die man es niemals konkret anstellen kann, nämlich, indem man die Tötung einfach zulässt und so tut, als ob sie gar keine vorsätzliche Tötung gewesen wäre. Eine Frau, die nach Vergewaltigung abtreibt, hat sicherlich eine geringere Schuld, als eine Frau, die aus nichtigen Gründen der Bequemlichkeit abtreibt. Doch die Schuld, wenn auch verringert, bleibt bestehen, und die Sünde ist objektiv dieselbe.

Zum Utilitarismus noch ein Wort und ein Denk-Beispiel: Wenn es absolut verboten ist, menschliches Leben zu töten, dann ist es auch klar verboten, ein entführtes Passiergierflugzeug abzuschießen, wenn es ganz offensichtlich auf ein Atomkraftwerd zufliegt – so ist ja auch die Rechtsprechung des BVG. Und nun: Wenn die Entführer klar gesagt haben, sie würden das Flugzeug in das AKW stürzen und wenn ebenso klar ist, dass damit hunderttausende Menschen in der nahe gelegenen Großstadt dadurch ums Leben kommen, und wenn dann genau das passiert, weil das Flugzeug (moralisch korrekt!) n i c h t abgeschossen wurde – glaubst Du, der Verantwortliche (Innen- oder Verteidigungsminister, Bundeskanzler, General oder wer auch immer) kann dann noch ruhig schlafen, weil er ja ein prima Gewissen haben müsste: “Ich habe moralisch einwandfrei gehandelt, mir kann keiner was vorwerfen!” Glaubst Du wirklich, dass er nicht denken würde: “ich hätte diese grausame Katstrophe verhindern können, wenn ich dieses Flugzeug hätte abschießen lassen, auch wenn dadurch einige hundert unschuldige Menschen geopfert worden wären”. Glaubst Du nicht, dass diese Bürde ihn sein Leben lang verfolgen würde? – Ich sage dies nur aus einem einzigen Grund: Das “wirkliche Leben” kann uns tatsächlich in äußerste moralische Bedrängnis bringen – und ich jedenfalls würde diesen Verteidigungsminister sehr gut verstehen, wenn er das Flugzeug hätte abschießen lassen, auch wenn er im vorhinein natürlich nicht hätte wissen können, ob es nicht doch auch eine andere Lösung gegeben hätte, die Katastrophe zu verhindern (vielleicht hätten ja einige Passagiere die Entführer noch im letzten Moment überwältigt, wie damals bei dem einen Flugzeug in USA 2001).

Ach ja, da ist es wieder, das Fallbeispiel! Ja, ich stimme dem Gericht zu, dass es unzulässig wäre, ein Gesetz zu verabschieden, nach dem die Tötung von Menschen gerechtfertigt werden könnte, um ein (angeblich) größeres Übel zu verhindern. Menschenleben dürfen nicht gegen Menschenleben aufgerechnet werden. Wenn ein konkreter Entscheidungsträger vor diese Situation gestellt wird, dann wird er eine Entscheidung treffen müssen, mit der er leben kann. Entschließt er sich zum Abschuss des Passagierflugzeugs, so muss er damit leben, dass er viele Menschen getötet hat, um viele Menschen zu retten. Er könnte sich strafrechtlich auf etwas berufen, was man übergesetzlichen Notstand nennt. Es gibt Fälle, für die das Gesetz nicht gemacht ist, und für die kein Gesetz gemacht werden kann. Der Entscheidungsträger muss die Verantwortung selbst übernehmen, und zwar nicht nur die politische, sondern auch die moralische. Ich weiß nicht, ob ich selbst noch schlafen könnte, egal wie ich mich entscheiden würde. Aber in letzter Konsequenz, wenn Leben gegen Leben steht – und nicht, wie bei der Vergewaltigung, Leben gegen psychischen Schmerz – haben wir eine andere Situation. So hat die Kirche Abtreibung immer grundsätzlich und ohne Ausnahme abgelehnt, auch bei Lebensgefahr für die Mutter. Und dennoch ist es nach ihrer Lehre zulässig, eine Operation zur Lebensrettung der Mutter zu unternehmen, bei der als Nebenfolge (nicht als beabsichtige Folge) das Kind stirbt. Die Tötung des Kindes darf nicht intendiert sein, aber wenn sie bei der Lebensrettung als Nebenfolge passiert, ist das durchaus zulässig. Ähnlich würde ich den Fall mit dem Flugzeug sehen, das auf ein AKW zusteuert. Wenn der Entscheidungsträger die Rettung des AKW befiehlt, und als Nebenfolge dieser Rettung das Flugzeug abgeschossen wird, dann wäre es zulässig, wenn es auch immer noch schlaflose Nächte bereiten würde. Hier haben wir einen Fall der Anwendung moralischer Prinzipien. Man darf und muss in der Anwendung flexibel sein, aber nicht, wenn dies den Bruch mit dem moralischen Gesetz bedeutet. In letzter Konsequenz darf man nicht Böses intendieren, um Gutes damit zu erreichen.

2 Gedanken zu „Der Utilitarismus und seine Folgen

  1. Ich habe nie verstanden, was am Utilitarismus ethisch sein soll – landet man da nicht zwangsläufig bei Rodion Raskolnikoff? Schon sprachlich ist gut nicht gleich nützlich. Warum bin ich in praxi trotz aller Prinzipien recht milde? Weil ich zwischen Gebot und Rechtfertigung und (subjektiver) Schuld unterscheide. Weil – wie Paulus sagt – der Geist willig ist und das Fleisch schwach. Und noch schwächer in Entscheidungen unter Zeitdruck. Wie ich Paulus verstehe kann man ohnehin infolge der Erbsünde nur mit der Gnade Gottes moralisch handeln.

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