Vom Sonntag als Ruhetag

Auf dieses scheinbar selbst in christlichen Kreisen neuerdings umstrittene Thema bin ich durch einen entsprechenden Beitrag bei Alipius aufmerksam geworden. Alipius und einige andere Kommentatoren (mich eingeschlossen) haben dort die klassische Auffassung vertreten, der Sonntag müsse als Ruhetag geschützt bleiben, und dies sei auch auf „verkaufsoffene Sonntage“ anzuwenden, die abgeschafft, oder wo es sie noch nicht gibt, verhindert werden müssten. Diese Haltung fand teils scharfen Widerspruch seitens anderer Kommentatoren, die die Auffassung vertraten, ob jemand einen Ruhetag beachten möchte, sei doch einzig und allein seine Sache, der Staat aber dürfe keinerlei Beschränkungen für die Sonntagsarbeit auferlegen, da dadurch die Freiheit der Individuen beschränkt würde. Ob man selbst dann den Sonntag als Ruhetag beachte sei Privatsache – und wenn man vom Arbeitgeber „gezwungen“ wird, gegen sein eigenes Gewissen, am Sonntag zu arbeiten, dann könne man ja kündigen.

Dass ein Ruhetag dem Gemeinwohl diene, wurde ebenfalls nicht als einsichtig betrachtet. Das Gemeinwohl sei bloß der Wille der Mehrheit, und wenn die Mehrheit verkaufsoffene Sonntage will, dann müsse man ihr dies zugestehen, oder vom Gedanken des Gemeinwohls als Grundlage für gesetzliche Bestimmungen gänzlich absehen (vermutlich bliebe dann als Grundlage nur noch der krude Utilitarismus mit seinem Nützlichkeitskalkül übrig).

Dass es gewisse Arbeiten gebe (Priester, Ärzte…) die auch am Sonntag verrichtet werden müssten, wurde ebenfalls als Grund genommen, um Sonntagsarbeit generell zu rechtfertigen. Als willkürlich wurde die Unterscheidung zwischen (a) notwendiger Arbeit (z.B. Notoperationen, nicht aufschiebbare Tätigkeiten), (b) Arbeit für den Sonntag (z.B. das Lesen von Messen, Kirchenmusik und vergleichbare Tätigkeiten, die der kollektiven Gottesverehrung und Heiligung des Sonntag dienen) und (c) allen anderen Tätigkeiten eingestuft. Schließlich sei ja auch ein Einkaufsbummel angenehm, und könne daher als Arbeit für den Sonntag eingestuft und in ihr ein höherer Zweck gesehen werden.

Angesichts der Tatsache, dass selbst die elementarsten Gründe für den Sonntag als generellen Ruhetag selbst in einer mit großer Mehrheit gläubig-katholischen Leserschaft nicht mehr unumstritten sind, erscheint es mir an dieser Stelle notwendig, einige Worte über den Sonntag als Ruhetag zu verlieren, und etwas weiter auszuholen, als es in einem Kommentarbereich möglich ist.

Zuerst möchte ich auf den großartigen Aufsatz von Robert Spaemann „Anschlag auf den Sonntag“ verweisen, zu finden in der Aufsatzsammlung „Grenzen – Zur ethischen Dimension des Handelns“. Dort legt Spaemann sehr eindrucksvoll die wesentlichen Gründe für den Sonntag aus einer säkularen Perspektive vor. Es sind jedoch Gründe, die scheinbar in der heutigen Zeit nicht mehr als Konsens selbst in christlicher Umgebung gelten können.

Warum ist der Sonntag ein Ruhetag?

Der Sonntag hat seine Wurzeln im jüdischen Sabbat, und steht im Christentum für den Tag der Auferstehung Jesu Christi. Jeder Sonntag ist in diesem Sinne eine Art Echo des Ostersonntags. Es ist der Tag der kollektiven und öffentlichen Gottesverehrung, der Tag, an dem das bloß weltliche Leben möglichst ruhen soll, um sich ganz auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das Wesentliche des Sonntags kann aufgrund seiner religiösen Bedeutung jedoch niemals bloß weltlich sein. Das Weltliche ist es ja gerade, das am Sonntag zurückzutreten, zu ruhen hat.

Alle weltlichen Funktionen des Sonntags ergeben sich erst aus seinem religiösen Zweck. Das Wesen einer Sache ist durch ihren Zweck bestimmt, also durch das, wofür sie da ist. Das Wesen des Sonntags ist durch einen Zweck bestimmt, und dieser Zweck ist religiös, nämlich als Tag des Herrn, als der Tag der Woche, der dem Herrn gewidmet ist.

Entzöge man dem Sonntag diese Bedeutung und interpretierte ihn bloß weltlich als notwendige Ruhe von der im Alltag stattfindenden Arbeit, so gäbe es tatsächlich keinen Grund mehr für einen gesamtgesellschaftlich als Ruhetag definierten Sonntag. Man könnte einfach festlegen, dass nur an sechs Wochentagen gearbeitet werden darf, und welcher der private, individuelle Ruhetag ist, müsste dann jeder selbst festlegen.

Und selbst dieser Ruhetag wäre dann nicht mehr heilig, sondern höchstens nützlich.

Die Debatte um den Sonntag ist daher eine Debatte um Religion, und speziell um die Bedeutung die die Religion in öffentlichen Angelegenheiten haben soll. Es ist vollkommen unmöglich, diese Debatte ohne Bezugnahme auf die christliche Tradition zu führen. Und der Sonntag als Ruhetag hat keinerlei Argumente mehr auf seiner Seite, wenn man sich auf eine Debatte auf rein weltlicher Ebene einlässt.

Wenn man nun, wie heute aufgrund des latenten Liberalismus üblich, Religion als Privatsache sieht, dann ist ein Tag, der für die kollektive Gottesverehrung beiseite gestellt wird, nicht mehr notwendig. Jeder kann dann „seinen eigenen privaten Gott“ verehren, wann und wie er will.

Alle weltlichen Zwecke, die dem Sonntag zugeschrieben werden – Entspannung, Zusammensein mit der Familie usw – können auch an anderen Tagen erledigt werden. Und zumindest die Familie als Kerneinheit des gesellschaftlichen Zusammenlebens ist ohnehin im Begriff irrelevant zu werden. An ihre Stelle tritt ein Staat, der alle wesentlichen Funktionen der Familie übernimmt, und eine permanent pubertär veranlagte, wechselhafte Sexualität ohne Bindung, ja ohne Bindungsfähigkeit, und mit Termin beim Abtreibungsarzt, falls ein „Unfall“ passiert.

Entspannung ist keinesfalls an einen bestimmten Tag gebunden, und erst recht nicht daran, dass sich alle am gleichen Tag „entspannen“. Einen hedonistischen Ruhetag kann und wird es niemals geben.

Der Anschlag auf den Sonntag als Mammonverehrung

Nun kann man sich die Frage stellen, warum der Sonntag angegriffen wird. Niemand wird doch prinzipiell gegen das Ausruhen sein. Um Ausruhen und Entspannen geht es bei der Debatte auch gar nicht. Es geht um den Sonntag als Nicht-Alltag. Es ist der herausgehobene Tag, der Tag, der anders ist als alle anderen. Der Tag, an dem nämlich wirtschaftliche Profiterwägungen irrelevant sind, an dem der Mensch an den höheren Zweck erinnert wird, zu dem er einst erschaffen worden war. Dies können die Schlangen dieser Gesellschaft nicht zulassen. Wir müssen eine stetige Kost von süßen Äpfeln zu uns nehmen, damit wir gar nicht erst auf die Idee kommen, die goldene, ökonomisch effiziente Schlangengrube, in der wir leben, zu hinterfragen.

Der süße, vergoldete Apfel des Mammons muss uns Tag für Tag, Stunde für Stunde vor Augen stehen. Man muss immer alles jetzt haben können. Sonst könnte das Betäubungsmittel nachlassen, dass unsere spirituellen und religiösen Sinne lähmt. Ich will am Sonntag meinen „Einkaufsbummel“ haben, heißt nichts anderes als: Ich will auch den Sonntag noch als Tag des Mammon statt als Tag des Herrn entweihen. Und zwar selbst dann, wenn man selbst gar nicht kauft. Der verkaufsoffene Sonntag ist selbst schon das Einfallstor dafür. Denn er hebt den Zusammenhang zwischen der Verehrung des wahren Gottes und der dafür beschränkt notwendigen Sonntagsarbeit auf, so dass der Eindruck entsteht, weil der Priester am Sonntag arbeitet, könne auch die Verkäuferin arbeiten. (Nur ganz nebenbei bemerkt ist der verkaufsoffene Sonntag, der besonders frauendominierte Berufe trifft, und den auch mehrheitlich Frauen nutzen würden, besonders perfide, weil die Frau nun auch noch am Sonntag aus dem Herzen der Familie entrissen wird, um ökonomische Sklavenarbeit zu tun, nachdem dieses Zerstörungswerk an den Wochentagen bereits durch ähnliche Propagandaarbeit, wie sie nun gegen den Sonntag getrieben wird, weitgehend verwirklicht worden ist.)

Die Zukunft des Sonntags

Die ohnehin schon ausgehöhlte Heiligkeit des Sonntags wird keinerlei Zukunft haben, wenn nicht der Sinn für den Zweck des Sonntags wiederentdeckt wird. Und das geht nicht durch verweltlichte Betrachtungen über die medizinischen, psychologischen oder sonstigen Vorteile eines Entspannungstages. Denn Ruhe, echte Ruhe, ist mehr als Untätigkeit.

Save the Liturgy – Save the World

Es scheint mir eine gemeinsame Wurzel zwischen dem liturgischen Aktionismus – alle müssen irgendwas tun, damit sie „aktiv an der Messe teilnehmen“ – und dem Angriff auf den Sonntag zu geben, und zwar die Vorstellung, Ruhe sei Untätigkeit, das „Fehlen von Arbeit“. Wer in der Liturgie einfach nur ruhig dort sitzt, steht, kniet, oder welche Haltung auch immer einnimmt, der ruht, aber er ist keinesfalls untätig. Nichts ist aktiver als Kontemplation. Wer den Sonntag heiligt, am Sonntag ruht, der ist ebenfalls nicht untätig. Die Ruhe ist auch hier Kontemplation, selbst wenn sie mit aktiven Handlungen verbunden ist, stehen diese aktiven Handlungen unter dem Zeichen der Kontemplation. Natürlich ist sie auch Entspannung, aber erst in zweiter Linie.

Ruhe ist nicht das Fehlen von Arbeit. Arbeit ist das Fehlen von Ruhe.

Der mit der Familie verbrachte Sonntag ist Rückkehr zu dem wesentlicheren Leben, das keinen ökonomischen Zwängen gehorcht. An diesem Tag vermeidbare ökonomische Transaktionen einzuführen, käme einer vollständigen Abschaffung der Sonntagsruhe gleich.