Es gibt gute Gründe für eine genaue theologische Untersuchung der Texte des 2. Vatikanischen Konzils hinsichtlich der Vereinbarkeit des Konzils mit dem früheren Lehramt der Kirche. Ebenso gut, wenn nicht noch besser, sind die Gründe für die Annahme, dass sich in letzter Konsequenz ein hermeneutischer Schlüssel wird finden lassen, der die Interpretation des Konzils in Übereinstimmung mit dem traditionellen Lehramt ermöglicht. Ich bin sehr zuversichtlich, dass das Projekt einer „Hermeneutik der Kontinuität“ erfolgreich sein wird, auch wenn ich mit manchen Aussagen des Konzils zum Ökumenismus, zur Religionsfreiheit usw. meine Schwierigkeiten habe.
Ich fürchte allerdings, dass diese Debatte, so wichtig sie auch ist, nicht den Kern des Problems der aktuellen Kirchenkrise trifft. Zunächst einmal sind die Konzilstexte mehrdeutig. Das Konzil hat zumindest in der Hinsicht mit der Tradition gebrochen, dass es eine ganz andere Sprache für seine Verlautbarungen verwendete. Nicht dogmatisch, sondern pastoral wollte es sein. Es wollte den katholischen Glauben in einer neuen, dem modernen Menschen zugänglichen Sprache darstellen.
Und damit ist das Konzil in jedem Fall gescheitert. Selbst wenn jeder einzelne Satz der Konzilsdokumente mit dem traditionellen Lehramt vereinbar ist, dann ist er das nur aufgrund einer komplexen theologischen Interpretation, die sich dem Laien überhaupt nicht erschließt. Gerade das, was das Konzil selbst erreichen wollte, hat es nicht geschafft. Es hat den Glauben dem modernen Menschen nicht näherbringen können.
Das Konzil ist noch in einem anderen Sinn gescheitert. Wir sollen sie an ihren Früchten messen, doch welches Bild gibt die nachkonziliare Ära in dieser Hinsicht ab?
Der Glaube ist höchstens noch lauwarm, er wird an vielen theologischen Fakultäten kaum noch gelehrt, von den Kanzeln (sofern noch vorhanden) meist nur in weichgespülter Wohlfühlform gepredigt, und so gut wie gar nicht mehr weitergegeben. Die Katechese ist seit fünfzig Jahren bestenfalls ausgefallen, schlimmstenfalls zur Immunisierung gegen den Glauben verwendet worden.
Kirchen werden geschlossen, die Priesterseminare sind leer, die katholische Religion überall im Rückwärtsgang. Ihre öffentlichen Vertreter sind handzahm und wehren sich nicht mehr gegen die Säkularisierung der ganzen Gesellschaft. Einige von ihnen treiben sie sogar aktiv voran. Gläubige, traditionelle Priester werden von ihren Bischöfen im Stich gelassen oder gar aggressiv bekämpft.
Die reale Gemeindepraxis hat kaum oder gar nichts mit der katholischen Religion zu tun. Die Messe ist vielerorts zu einem Ort bloß menschlicher Kreativität herabgewürdigt worden. Die Schätze vieler Jahrhunderte sind zerstört worden. Schöne Altäre wurden durch Holztische ersetzt, die Bilderstürmer haben die Kirchen erobert und zu heiligen Lagerhallen umfunktioniert. Es wundert nicht, dass in solchen Kirchen keine ehrfürchtigen Messen zelebriert und kein wahrer Glaube gelehrt wird.
Mancherorts haben ohnehin die Laien längst die Leitung der Kirche übernommen und die Priester sind von ihnen ersetzt oder an den Rand gedrängt worden. Der Opfercharakter der Messe und die Realpräsenz Christi sind weitgehend vergessen oder verdrängt worden. Mehr als zwei Drittel der Katholiken glauben nicht mehr an die Realpräsenz. Sehr viele Priester auch nicht, wenn man sieht, wie sie mit der konsekrierten Hostie umgehen. Ohne das Opfer ist auch der Opferpriester überflüssig. Es wundert nicht, dass die Seminare leer sind.
Die meisten Katholiken gehen gar nicht mehr zur Messe. Warum auch? Man hat ihnen beigebracht, dass das ein nettes sonntägliches Frühstück ist, bei dem man an Jesus denkt und der Kreativität anderer Leute zuschaut. Das alles kann man auch ohne Kirche haben. Sie wissen kaum etwas über ihren Glauben und ihr Lebenswandel ist nicht von den Protestanten und Atheisten zu unterscheiden. Katholiken haben kaum noch Kinder, sie stellen ihre persönliche Selbstverwirklichung über ihren Glauben und ihre Familie. Sie passen sich an das alltägliche säkulare Leben an statt Zeichen des Widerspruchs zu sein. Die Abtreibungskliniken und Scheidungsgerichte sind voll von ihnen. Sie leben, als ob sie gar nicht mehr katholisch sein wollten. Sie sind in der Masse des kollektiven Ameisenhaufens längst aufgegangen. Viele von ihnen lassen ihre wenigen Kinder auch folgerichtig gar nicht mehr taufen. Sie können ja später selbst entscheiden und sind nicht ohnehin alle Religionen gleich?
Man könnte die Aufzählung beliebig fortführen. Eins steht jedenfalls fest: Wenn wir die letzten 50 Jahre kirchlichen Handelns an ihren Früchten messen wollen, dann müssen wir ehrlich und offen sprechen. Sich vornehm um die Wahrheit herumzudrücken bringt nichts. Die Früchte sind eine einzige Katastrophe. Man kann jetzt lange darüber streiten, ob nur der „Geist des Konzils“ dafür verantwortlich ist, oder das Konzil selbst. Doch der Streit ist, so interessant er auch ist, letztlich müßig. Wenn wir das Konzil an seinen Früchten messen wollen, dann ist es ein Fehlschlag gewesen. Es hat die Säkularisierung, sogar die Apostasie nicht aufhalten können. Und das gilt auch dann, wenn man das Konzil ja ganz anders hätte interpretieren können; das Konzil hat einer Bruchhermeneutik in der Realität keinen Widerstand entgegengesetzt.
Der Kaiser hat gar keine Kleider an. Das Konzil ist eine einzige riesige pastorale Katastrophe gewesen, ganz gleich, ob es theologische Irrtümer gelehrt hat, oder alles in Einheit mit der Tradition zu lesen ist. Es hat schlicht und einfach nicht funktioniert. Man muss Fehler erkennen und erkannte Fehler berichtigen. Alles andere wäre bloß Sturheit.
Doch wenn das Konzil eine einzige pastorale Katastrophe war, was sollen wir dann tun? Nun, wir sehen, wo es die pastoralen Katastrophen nicht gegeben hat. Nämlich dort, wo man sich durch das Konzil gar nicht hat irritieren lassen. Dort, in den traditionellen Gruppen, sind Nachwuchs, Eifer, Glaube und Tradition erhalten geblieben. Dort sind die Kirchen nicht leer, die Gläubigen nicht gleichgültig, und die Priesterseminare voll. Dort wird der katholische Glaube gelebt und er ist quicklebendig. Er ist lebendig, und er wächst.
Wir sollen sie an ihren Früchten erkennen, und das gilt auch für den Baum des Konzils. Seine Früchte sind giftig gewesen. Es mag sein, dass es auch hätte anders kommen können, wenn man von Anfang an auf breiter Front die richtige Hermeneutik verwendet hätte. Man hat es aber nicht getan. Und der Grund dafür ist einfach. Man hat es nicht getan, weil man es nicht wollte. Die Konzilsväter sind 1965 heimgefahren und haben das umgesetzt, was sie für richtig hielten, und das toleriert, was sie nicht für falsch hielten. Was sie getan haben ist das, was das Konzil aus ihrer Sicht tun sollte. Sie haben nicht auf dem Konzil „Kontinuität“ gefordert und dann daheim den Bruch versucht, so als ob es da einen plötzlichen Sinneswandel gegeben hätte. Sie haben den Bruch schon auf dem Konzil beabsichtigt. Der Heilige Geist hat den theologischen Bruch wohl verhindert – den pastoralen Bruch jedoch nicht.
Die Früchte des Konzils haben wir heute vor uns und sie sind giftig. Der Kaiser hat keine Kleider, er ist nackt. Heißt das, dass wir das Konzil wieder abschaffen müssen? Nein, natürlich nicht. Aber es heißt, dass die Neuerungen des Konzils nicht zum Maßstab des Glaubens werden dürfen. Es heißt, dass derjenige, der die Neuerungen des Konzils ablehnt, nicht weniger katholisch ist, als ihr Befürworter, und dass er in voller Einheit mit der Kirche sein kann, selbst wenn er besagte Neuerungen zugleich scharf kritisiert. Es heißt, dass das Konzil keine zukunftsweisende Reform war, sondern höchstens ein pastoraler Fehltritt, aus dem man jetzt das beste machen muss. Es heißt, dass das Ziel der anfangs erwähnten theologischen Diskussionen nur sein kann, eine Interpretation des Konzils anhand der Tradition zu erarbeiten und nicht die Tradition anhand des Konzils zu interpretieren.
Und schließlich heißt es, dass wir allen dankbar sein sollten, die nach bestem Wissen versucht haben, den traditionellen Glauben der Kirche unter großem persönlichem Einsatz durch den Sturm der Nachkonzilszeit getragen haben, und so das Reservoir gesunder Lehre und Praxis bewahrt haben, aus dem man für die jetzt notwendige wahre Erneuerung schöpfen kann.