Rationaler Glaube

In seinem zu empfehlenden Kommentar zur Summa contra Gentiles nähert sich Johannes der Thematik der Gottesbeweise, die ja heute ziemlich diskreditiert sind. Seine These scheint zu lauten, dass man die Vernunft früher für fähig hielt, religiöse Wahrheiten zu erkennen, während man sie heute in eine enge Beziehung zu reinen Gefühlsäußerungen setzt, und dass diese Verschiebung Ausdruck einer breiteren Tendenz in derselben Richtung ist.

Bei Thomas von Aquin und der ganzen klassischen philosophischen Tradition findet sich in der Tat die feste Überzeugung, dass die menschliche Vernunft nicht auf bloß materielle, empirische Zusammenhänge beschränkt werden dürfe, sondern ihre wahre Würde darin bestehe, im Ausgang von elementaren Sinneserkenntnissen und den Gesetzen der Logik auch Aussagen über nichtmaterielle, jenseits der menschlichen Vorstellungskraft liegende Dinge machen zu können. Dass dabei zuweilen übertrieben worden sein mag, möchte ich gar nicht bestreiten. Die menschliche Vernunft ist nicht allmächtig und nicht unfehlbar. Sie kann nicht alle Wahrheiten des christlichen Glaubens aus eigener Kraft erkennen. Doch sie ist auch nicht ganz so machtlos, wie die Moderne sie seit der erkenntnistheoretischen Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts darzustellen versucht. Die paradigmatische Wissenschaft ist für die rationalistische Seite der modernen Debatte die Mathematik bzw. die Logik und für die empiristische Seite die empirische Naturwissenschaft. Was sich nicht messen lässt – und daher mit den Mitteln der Naturwissenschaft und der Mathematik nicht verarbeitet werden kann – gibt es für diesen Typus der Wissenschaftlichkeit objektiv gesehen gar nicht.

Philosophie und Religion werden dadurch in der Moderne zu rein subjektiven Angelegenheiten. (Oder man versucht sie zu rationalisieren – nach dem modernen Begriff von Rationalität – was sie ihres spezifischen Charakters beraubt.) Sie verlieren ihre Wahrheitsfähigkeit, weil sie nicht mehr als Aussagen über eine externe, erkennbare Realität betrachtet werden. Diese charakteristische Verschiebung des Wissens- und Wissenschaftsverständnisses stellt Papst Benedikt in seiner hervorragenden „Regensburger Rede“ in beeindruckend klarer Form dar.

Auf der Basis der modernen, naturwissenschaftlichen Vernunft kann die Religion nicht wahr oder falsch sein, weil sie weder in formaler Logik, noch in Mathematik oder Experiment verifiziert oder falsifiziert werden kann. Doch die gesellschaftliche Sphäre soll rational sein – der Religion bleibt einzig der Rückzug ins Private, der dann durch den Liberalismus auch folgerichtig angestrebt wurde. Über dieses Private, so argumentiert man dann ebenfalls folgerichtig, sind verschiedene Ansichten möglich, weil es keine objektiv feststellbare Wahrheit gibt. Damit sind wir beim Pluralismus bzw. religiösen und ethischen Relativismus angelangt.

Man könnte diese geistesgeschichtlichen Entwicklungen weiter verfolgen, und das wäre sicher sehr fruchtbar, doch bereits aus dem Gesagten wird deutlich, dass die Abkehr vom „klassischen“ Vernunftsbegriff weite, die ganze Gesellschaft erschütternde Kreise zieht. Durch die Exklusion von Religion, Philosophie und besonders auch der Sittenlehre aus dem Reich des objektiven Wissens wird eine Entwicklung in Gang gesetzt, die bis heute andauert, und die Grundlagen, auf denen auch die Moderne ruht, nämlich die Möglichkeit rationaler naturwissenschaftlicher Erkenntnis, vollständig auflöst. Wie dies philosophisch genau vor sich geht, zeichnet in englischer Sprache und polemischer Form ganz hervorragend Ed Feser in seinem Buch „The Last Superstition“ nach, wobei er sich mit verständlichen Worten trotz wissenschaftlichen Anspruchs auch an philosophische Laien wendet.

Doch die wichtigste Frage ist, wie meistens, die nach der Wahrheit. Stimmt es tatsächlich, dass der Mensch über Religion durch seine Vernunft nichts herausfinden kann? Ist er wirklich vor die Wahl gestellt, ob er seinen Glauben irgendeiner Offenbarung schenken will, deren Irrationalität er einsehen müsste, wenn er sich mir ihr beschäftigte (ein typisches Kennzeichen des Fundamentalismus), oder Religion zum bloßen Gefühl ohne bestimmten Inhalt werden zu lassen (wie in dem „Christentum“, das in Deutschland Mehrheitsreligion ist)?

Die katholische Kirche hat der menschlichen Vernunft das größtmögliche Kompliment gemacht, indem sie dogmatisch erklärt hat, die Existenz Gottes sei mit den bloßen Mitteln der menschlichen Vernunft nachweisbar. Doch ist dieses Kompliment gerechtfertigt? Für den Katholiken reicht es, dass die Kirche es unfehlbar erklärt hat – „Roma locuta – causa finita“ – doch wird diese Antwort den Nichtgläubigen kaum befriedigen.

Der Hl. Thomas geht noch weiter. Nicht nur die Existenz Gottes kann von der menschlichen Vernunft erkannt werden, sondern auch noch einige weitere Informationen über ihn, etwa seine Güte, dass er weder räumlich noch zeitlich beschränkt ist usw. Er behauptet das jedoch nicht einfach nur, sondern bringt ausführliche Argumente für seine Thesen, antwortet jeweils auf viele mögliche Einwände und bemüht sich nach bestem Wissen darum, fair zu allen Seiten zu sein. Es geht dem Hl. Thomas darum, die Wahrheit zu finden, egal wo sie liegt. Er möchte zeigen, dass er Recht hat, nicht bloß Recht bekommen. Er ist wie Sokrates, nicht wie die Sophisten.

Die Argumente des Hl. Thomas sind bis heute nicht widerlegt, sondern einfach ignoriert worden. Sie stellen auch heute noch die beste Grundlage für den katholischen Glauben dar, gerade weil sie so rational, so durchdacht, so logisch sind. Sie führen den Leser bis an die Grenzen der menschlichen Vernunft, zeigen die Rationalität des Glaubens auf, leugnen jedoch nicht, dass die endliche Vernunft die unendliche Vernunft niemals ganz wird begreifen können, dass es immer Glaubensgeheimnisse geben wird, deren Durchdringen trotz der Fruchtbarkeit unserer Meditationen nie ganz gelingen kann.

Wer sich nicht ernsthaft mit den Argumenten des Hl. Thomas und seinen geistigen Nachfolgern auseinandergesetzt hat, kann wohl kaum für sich in Anspruch nehmen, er habe die Irrationalität des Glaubens erkannt.

Wer wirklich daran interessiert ist, ob die Religion vernunftgemäß ist, kommt an Thomas nicht vorbei. Auf der Basis des traditionellen Vernunftbegriffs kann sich die Religion rational behaupten. Das zeigt Thomas eindeutig. Auf der Basis des modernen Vernunftbegriffs bleiben Glaube und Vernunft unversöhnliche Gegensätze. Wenn man den Hl. Thomas in seinen Grundzügen ablehnt, dann nicht weil seine Argumente schwach oder widerlegt wären, sondern weil man seinen weiten, offenen Vernunftbegriff nicht teilt.

Weil der moderne Vernunftbegriff an der Wurzel der Krise der Moderne liegt, besteht der erste Schritt zur Überwindung dieser Krise in einer Ausweitung der Vernunft über ihre modernen Schranken hinaus, also in einer Rückkehr zum traditionellen Vernunftbegriff, und damit zur klassischen philosophischen Tradition, in deren Zentrum sich der Hl. Thomas befindet.

Und weil die Krise der Moderne an der Wurzel der drängendsten Probleme des 21. Jahrhunderts liegt, ist die Rückkehr zum traditionellen Vernunftbegriff – und damit zu Thomas – kein Akt philosophischer Elfenbeinturm-Mentalität, sondern eine notwendige Voraussetzung für die Lösung der Hauptfragen unserer Zeit.

4 Gedanken zu „Rationaler Glaube

  1. „Hinführung zu Thomas von Aquin“ von Josef Pieper, der mich auf Chesterton „Thomas von Aquin und Franz von Assisi“, das ich gerade lese, gebracht hat, weiter geht es bei mir nicht, ohne Lehrer, nur autodidaktisch. Wunderbar zu lesen, kann ich nur sagen, obwohl ich damit erst angefangen habe.
    Es ist aber auch schmerzlich. Wenn ich den wiederentdeckten Ludwig Ott „Grundriss der Dogmatik“ oder Romano Amerio „Iota Unum“ hinzunehme oder vorkonziliare Katechismen, dann wird einfach deutlich: Die vorkonziliare Kirche und ihre Theologen haben immer darauf bestanden, dass der Glaube rational sei. (Allerdings mit Thomas von Aquin, dass die Vernunft die Gott erkennen kann, nicht fähig ist, Offenbarungswahrheiten von sich aus zu erkennen). Während des II. Vatikanums haben dann Karl Rahner und seine Gefährten über die „Schul-Theologie“, die „Handbuch-Theologie“, den „Intellektualismus“ gespottet. Leider mit großem Erfolg. Die Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe z. B. werden wahllos durcheinander geschmissen. Schlimmer noch: Glaube ist nicht mehr „das Für-Wahr-Halten“ , er löst sich in subjektives Gefühl auf. „Glaube ist, wenn ich mich Gott zuwende“, formulierte der Theologieprofessor Kasper, der Bischof von Rottenburg-Stuttgart und dann Kardinal und Präsident des Einheitssekretariats wurde. Er steht für viele.
    Ich weiß nicht, ob die Kirche eine „Thomas-Renaissance“ braucht. Ich bin mir aber sicher, dass ohne die Rückkehr der Vernunft in die Theologie der Verfall der Kirche weitergeht. Subjektiv starke religiöse Gefühle bieten andere Konfessionen und Religionen auch. Dafür allein wird die katholische Kirche nicht gebraucht.

    • Cuppa,
      Thomas ist einfach der Denker, der die Synthese von Katholizismus und Vernunft am besten verkörpert. Theoretisch ginge es auch ohne hin, aber leichter ist es mit einer solchen Renaissance, die ja ironischerweise das Konzil auch gar nicht behindern will, weist es doch dem Hl. Thomas einen wichtigen Platz in der kirchlichen Unterweisung zu. Hier haben wir wirklich einen Fall von Kontinuität, der durch einen späteren Geist des Konzils zum Bruch transformiert wurde.
      Wenn der Glaube nicht mehr rational fundiert ist, wird er fundamentalistisch oder modernistisch, wie man an den von Dir zitierten Fällen sehr gut erkennen kann. Father Z bezeichnet sich auf seinem lesenswerten Blog gern als „unreconstructed ossified manualist“ – Das Handbuch ist nicht der Höhepunkt der Theologie, sondern der Einstieg. So wie der Physiker seiner Forschungsarbeit nur nachgehen kann, weil er die Grundlagen vorher gelernt hat. Es gibt einen legitimen Platz der spekulativen Theologie, die über das Lehramt hinausgeht. Doch der Fehler der heutigen Theologie, selbst wenn sie nicht direkt modernistisch daherkommt, besteht darin, die Grundlagen, den existierenden Wissensstock vollkommen zu ignorieren. Doch das geht jetzt weit über das thema dieses Artikels hinaus.

  2. P.S. Ich glaube nicht, dass die Kirche warten kann, bis wir wieder philosophisch einen „gereinigten“ Vernunftbegriff bekommen. Vieles deutet daraufhin, dass die „infantilen Anteile“ in unserer Gesellschaft zunehmen. Von ihrer Potnz her hätte die katholische Kirche das „Gegengift“ oder freundlicher: die Medizin…

    • Cuppa,
      die „infantilen Anteile“ nehmen zu – das ist richtig. Wir haben es mit einer Horde pubertierender Jugendlicher aller Altersgruppen zu tun, die sich für die einzigen vernünftigen Erwachsenen halten. Der Heilige Vater setzt sich in seiner Verkündigung unermüdlich für die Wiederkehr eines umfassenden, traditionellen Vernunftbegriffs ein, d.h. er verbreitet das Gegengift, von dem Du sprichst.
      Jetzt müssten die Bischöfe und besonders die Seminare endlich nachziehen…

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