Die Aufhebung des Grundkonflikts
Wir hätten einen Kollektivismus, der sich ständig individualistischer Denkstrukturen bedient, und aus einem starken Individualismus motiviert wäre, jedoch letztlich über individuelle Leichen ginge, um das den Nutzen des Kollektivs zu maximieren. Ebenso hätten wir einen Individualismus, dem es genuin darum ginge, dass jedes Individuum, jeder einzelne Mensch, ein gutes, d.h. subjektiv nützliches, erfülltes Leben führte, der sich aber zur Erreichung dieser Ziele letztlich totalitär-kollektivistischer Mittel bediente, um wissenschaftlich fundiert eine Gesellschaft zu „organisieren“, in der jedes Individuum „seinen Traum leben“ könnte.
Das erklärt auch die seltsame Verquickung individueller und kollektiver Elemente in allen modernen politischen Ideologien. Auch dem kollektivistischen Kommunisten geht es eigentlich um den Nutzen der individuellen Menschen. Auch dem liberalen Individualisten bleibt nichts anderes übrig, als zur subjektiven Nutzenmaximierung des Individuums zu letztlich totalitär-kollektivistischen Mitteln der Umerziehung und der Volksbeglückung zu greifen.
Die heutige Gesellschaft, die paradigmatisch eine Gesellschaft der Nutzenmaximierung ist, zerstört daher wahre Gemeinschaft ebenso wie wahre Individualität. Die Individualisten erkennen nur die Erfüllung individueller Bedürfnisse und Präferenzen als legitimes Gesellschaftsziel an, und um möglichst alle Präferenzen zu befriedigen, wird ein umfassendes, jede Individualität erstickendes Programm organisierter Beglückung vertreten – faktisch ist Liberalismus inzwischen dazu verkommen. Selbst unter der Herrschaft des Individualismus hat das Individuum keine Chance.
Letztlich verschwimmen in einer solchen Gesellschaft Kollektivismus und Individualismus ineinander, und aus der einstmals lebhaften Konfliktschärfe des Gegensatzes wird zunehmend, in der Spätphase ihres Lebenszyklus, eine blutleere Funktionärskaste, deren „Parteien“ sich kaum voneinander unterscheiden, was sie nicht davon abhält, um Posten und Funktionen im organisierten, kollektiven Zwangsbeglückungsstaat des radikalen Individualismus zu streiten. Mehr und mehr wird politischer Diskurs dann eine Show, ein Beispiel für Entertainment, und wahre Entscheidungen werden direkt von den Experten getroffen, von den Technokraten, die sich nicht dem alljährlichen Wahlzirkus stellen müssen.
Entdemokratisierung ist die logische Folge und Verfallserscheinung dieses Gesellschaftsprojekts.
Organisierte Anarchie
Wenn wir nun einige zentrale Wesensmerkmale und Strukturkennzeichen der nutzenmaximierenden modernen Gesellschaft aufgefunden haben, dann gilt es immer noch, diese auf einen Begriff zu bringen, der ihr Wesen trefflich auszudrücken vermag. Mir scheint dafür vielleicht der Begriff „organisierte Anarchie“ geeignet zu sein, denn einerseits ist der moderne Staat so gründlich und umfassend durchorganisiert, wie keiner vor ihm, andererseits existiert er allein zu dem expliziten Zweck, jeden Menschen von der Herrschaft zu befreien, die ihm einmal Vorschriften darüber machte, was er zu glauben habe, was moralisch und was unmoralisch sei, was ein gutes Leben sei etc.
Der moderne Staat als totaler Staat
Es ist nach dieser Auffassung letztlich die Unterdrückung durch den „wissenschaftlich“ organisierten Volksbeglückungsstaat, durch die der Mensch von Unterdrückung frei werden kann. Nur die Unterwerfung unter diesen Staat kann den Menschen wirklich frei machen. Man erkennt leicht, dass ein solcher Staat faktisch religiöse Funktionen übernommen hat, wie „neutral“ er sich auch immer gerieren mag. Die befreiende Tyrannei, oder die organisierte Anarchie ist notwendig ein totaler Staat. Totalitarismus heißt nicht Faschismus oder Kommunismus, sondern einfach, dass der Staat letztlich die Hoheit über alle Lebensbereiche hat. Und dies wird ihm heute kaum noch ernsthaft bestritten. Es ist daher gerechtfertigt, den modernen Staat als den seinem Wesen nach prinzipiell totalen und sogar totalitären Staat zu kennzeichnen.
Ersatzmessianismus
Nur der moderne Staat kann den Menschen von seiner Unterdrückung durch andere erlösen (und ich wähle dieses Wort mit Bedacht). Der moderne Staat ist letztlich ein Ersatz für die messianischen Hoffnungen des säkularen Ex-Christen des modernen Westens.
Dieser so beschriebene moderne Staat wird aufgrund seines totalen Anspruchs praktisch identisch mit der modernen Gesellschaft. In jeden Bereich reicht der Staat hinein – Wirtschaft, Bildung, Familie, Medien, Unterhaltung etc. Grenzen, gleich ob moralisch, religiös oder praktisch, erkennt er nicht mehr an.
Die große Verfolgung
Aufgrund verbliebener Reste christlicher Zurückhaltung und demokratischer Verantwortlichkeit scheut er sich derzeit noch, alle Grenzen restlos zu überschreiten und alle Dissidenten mittels modernster Technologie zu verfolgen und zu exterminieren (wofür etwa durch Drohnen, Datenspeicherung und Abschaffung des Bargelds bereits heute wichtige Voraussetzungen geschaffen werden).
Andere Geschmacksrichtungen des totalen Staats haben derartige Skrupel nicht gehabt. In seiner kommunistischen und faschistischen Variante hat der totale Staat zu schrecklichen Völkermorden geführt. Die „organisierte Anarchie“ hat dieses Stadium noch nicht erreicht. Dies ist jedoch nur eine Frage des Entwicklungsstadiums – der heutige Staat ist noch nicht so weit. Er hat nicht den Weg der revolutionären Umwälzung gesucht, sondern sich durch stetige Reformen „totalisiert, und dieser Prozess ist noch längst nicht vobei. Der Reformstaat geht langsamer, bedächtiger vor als der Revolutionsstaat, doch das ändert nichts daran, dass sie beide zum gleichen Ziel hin unterwegs sind, oder um die moderne Phrase zu verwenden, dass sie beide zum gleichen Ziel hin fortschreiten.
Für Christen bedeutet dies dasselbe, wie in allen Staaten dieses Typus, angefangen vom dekadenten Römischen Reich mit seinem vergöttlichten Kaiser bis zu den Gulags der Sowjetunion. Der Wind weht aus den Tiefen und die Verfolgung naht. Denn Christen können niemals einen totalen Staat anerkennen und ihm die Art Huldigung erweisen, die er notwendig früher oder später sowohl in formalen Gesten als auch in alltäglichem Verhalten von seinen „befreiten“ Untertanen erwarten muss.