Vom modernen Staat und seinem Charakter (Teil 1 von 3)

Wie soll man den Zustand der heutigen Gesellschaft beschreiben?

Um etwas beschreiben zu können, muss man es zunächst verstehen. Eine Beschreibung ist umso treffender, je näher sie an das Wesen des Beschriebenen herankommt. Verstehen bedeutet, eine Sache ihrem Wesen nach zu erkennen, und nicht nur verschiedene äußerliche Eigenschaften anzugeben. Wir beschreiben einen Menschen, wenn wir sagen, er sei 1,80m groß, habe blonde Haare und eine Fistelstimme. Doch wir treffen damit nicht sein Wesen. Er könnte doch kleiner sein, schwarzhaarig und stumm, und bliebe immer noch im Grunde derselbe Mensch, nur einige äußerliche Merkmale wären anders. Das, was beim individuellen Menschen wirklich wesentlich ist, könnte man seinen Charakter nennen. Ebenso wollen wir das Wesentliche an einer spezifischen Gesellschaft bezeichnen.

Allgemein gesprochen sind staatliche Gesellschaften zur Sicherung des diesseitigen Gemeinwohls da. Man kann verschiedene Arten solcher Gesellschaften danach unterscheiden, auf welche Weise sie nach diesem gemeinsamen Ziel streben, und was sie als Gemeinwohl ansehen. Diese zwei Arten von Differenzen sind sehr eng miteinander verbinden. Wenn eine Gesellschaft unter Gemeinwohl die Nutzenmaximierung der Mehrzahl ihrer Mitglieder versteht, dann werden die Methoden, die Mittel und Wege, auf denen die Gesellschaft zu ihrem Ziel voranzuschreiben beabsichtigt, dazu tendieren, bestimmte Gestalt anzunehmen, die sich besonders für das gegebene Ziel eignet. Je nach dem Zweck einer Gesellschaft werden ihre Institutionen eine andere Form einnehmen, auf unterschiedliche Weise wirken, und die Gesellschaft wird aus unterschiedlichen Grundelementen aufgebaut sein. (Für philosophisch interessierte Leser: Das alles ist nur die Anwendung der aristotelischen Vierursachenlehre auf das staatliche Zusammenleben der Menschen.)

Institutionen, Demokratie und Individualismus

Eine Gesellschaft der Nutzenmaximierer, um das vorige Beispiel aufzugreifen, hat sich als ihren Zweck die Maximierung des individuellen Nutzens der Mehrzahl gesetzt. Um diesen Zweck erreichen zu können, wird sie sich demokratische Institutionen geben, damit die Mehrzahl das, was sie für ihren Nutzen hält, den Regierenden auf organisierte Weise effektiv kundtun kann, und die Regierenden mindestens langfristig nicht anders können, als nach besten Kräften für die Durchsetzung des Mehrheitsnutzens einzutreten, da sie sonst abgewählt würden. Die institutionellen Formen der Gesellschaft werden also demokratisch sein, und die Bewahrung der Demokratie würde in einer solchen Gesellschaft allgemein als grundlegendes Ziel angesehen, und selbst von denen, die eigentlich eine andere Art von Gesellschaft favorisieren, als Beschwörungsformel im Mund geführt, um sich nicht dem Volkszorn der nutzenmaximierenden Mehrheit preiszugeben.

Eine Nutzenmaximierer-Gesellschaft würde als ihren materiellen Grundbaustein das Individuum angeben. Sie wäre in ihrer Selbstdarstellung sehr individualistisch, da es doch letztlich auf den individuellen Nutzen des Einzelnen ankommt, der da maximiert werden soll. Familien, religiöse Institutionen und alle anderen Zusammenschlüsse würden in einer solchen Gesellschaft dann und nur dann geschätzt, wenn sie nach der Meinung der Nutzenmaximierer den individuellen Nutzen des Einzelnen oder den Gesamtnutzen der Gesellschaft optimieren.

Grundkonflikt der Nutzenmaximierer-Gesellschaft

Damit ist auch der zentrale politische Grundkonflikt einer solchen Gesellschaft bereits vorgezeichnet. Es tritt ganz von selbst ein Interessengegensatz zwischen zwei Gruppen auf, die sich beide die Maximierung des Nutzens auf die Fahne geschrieben haben, diesen Nutzen aber unterschiedlich interpretieren. Für die eine Seite dieses Konflikts wäre der individuelle Nutzen des Einzelnen entscheidend, und sie würden auf den ideologischen Individualismus pochen, der wesentlich für diese Gesellschaftsform wäre. Wenn es zum Konflikt zwischem dem Einzelnutzen und dem Gesamtnutzen der Gesellschaft kommt, würden sie Partei für den Einzelnutzen ergreifen. Umgekehrt gäbe es notwendig in einer solchen Gesellschaft eine Seite, die für die Maximierung des Gesamtnutzens auch dann eintreten würde, wenn es dem Einzelnutzen einer Minderheit von Individuen schadete. Die erste Seite würde ihre Haltung unter Berufung auf den grundlegenden Individualismus begründen, und sicher nach allerlei Mittel und Wegen suchen, die Verwirklichung möglichst vieler Einzelnutzen mit der Maximierung des Gesamtnutzens gleichzusetzen. Die andere Seite würde ihren Gegnern vorwerfen, egoistische Motive zu verfolgen und sich dem Fortschreiten der Gesellschaft zu ihrem Ziel der Nutzenmaximierung zu widersetzen. Sie würde sich den Mantel der Fortschrittlichkeit umhängen, und die andere Seite der Ungerechtigkeit bezichtigen.

Gerechtigkeit und Nutzenmaximierung

Überhaupt könnte eine Gesellschaft der Nutzenmaximierer Gerechtigkeit nur noch als die Chance, seine eigene, private Nutzenvorstellung für sich umsetzen zu können, verstehen. Ungerecht wäre nach ihren eigenen Maßstäben alles, was andere Menschen davon abhielte, ihren eigenen individuellen Nutzen zu maximieren. Hier taucht dann wieder der Grundkonflikt dieser Gesellschaft auf: Wann und unter welchen Umständen ist es gerechtfertigt, den Nutzen einzelner Menschen zu mindern, um der Gesamtheit zu helfen? Ist es gerecht, einer kleinen Gruppe Unrecht zu tun, weil dies gut für die Mehrheit und die Gesamtheit wäre? Ist das Individuum wichtiger als das Kollektiv? Ist es gerechtfertigt, den Reichen zwangsweise zu nehmen, um den Armen zu geben? Fragen dieser Art würden den Gerechtigkeitsdiskurs einer nutzenmaximierenden Gesellschaft dominieren.

Technokratie, Expertise und Scheinwissenschaft

Sie gäbe sich demokratische Institutionen und würde zwischen einem ideologisch grundlegenden Individualismus und einem Hang zum Kollektivismus als Maximierung des materiellen Gesamtnutzen tendieren, der noch eine weitere wichtige Folge hätte. Da die Nutzenmaximierung absolut zentral wäre, würde die Gesellschaft ihre geistigen und materiellen Ressourcen so stark wie möglich auf die Erforschung materieller Mittel und Wege richten, wie man denn den Nutzen der Mehrzahl maximieren kann. Man würde wissen wollen, nach welchen Mechanismen die Gesellschaft funktioniert, und wie man sie durch politisches Handeln so modifizieren kann, dass sie dem gegebenen Ziel möglichst nahekommt. Mit anderen Worten: In einer solchen Gesellschaft gäbe es so etwas wie Sozialwissenschaft (im weitesten Sinn des Wortes, inklusive Ökonomie etc.), und ihre Vertreter hätten die Reputation, die Experten für die Planung der Gesellschaft zu sein. Ihre Aufgabe wäre, den Mechanismus der Gesellschaft zu erkennen, damit er zur Erreichung der politischen Ziele beliebig manipuliert werden könnte. Es wäre unausweichlich, dass es zur Bildung einer Elite käme, die sich aus diesen Experten – Soziologen, Ökonomen, Psychologen, Juristen etc. – rekrutierte. Diese Elite wäre einigermaßen homogen, insofern sie identische Interessen hinsichtlich der Manipulation der Gesellschaft durch staatliches und „zivilgesellschaftliches“ Handeln hätte. Es wäre natürlich, dass für diese Elite gewachsene Strukturen, die der wissenschaftlichen Nutzenmaximierung im Wege stünden, keinen Wert besäßen und insofern wäre diese Elite „fortschrittlich“. Allerdings wäre sie trotz ihrer relativ homogenen Interessenstruktur unausweichlich in dieselben zwei Lager gespalten, die auch die breitere Gesellschaft spalten würde. Auch hier würde die Frage aufbrechen, ob es im Konfliktfall um den Nutzen des Einzelnen gehen solle, oder ob dieser hinter dem Gesamtnutzen zurückstehen sollte.

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