Vom modernen Staat und seinem Charakter (Teil 3 von 3)

Die Aufhebung des Grundkonflikts

Wir hätten einen Kollektivismus, der sich ständig individualistischer Denkstrukturen bedient, und aus einem starken Individualismus motiviert wäre, jedoch letztlich über individuelle Leichen ginge, um das den Nutzen des Kollektivs zu maximieren. Ebenso hätten wir einen Individualismus, dem es genuin darum ginge, dass jedes Individuum, jeder einzelne Mensch, ein gutes, d.h. subjektiv nützliches, erfülltes Leben führte, der sich aber zur Erreichung dieser Ziele letztlich totalitär-kollektivistischer Mittel bediente, um wissenschaftlich fundiert eine Gesellschaft zu „organisieren“, in der jedes Individuum „seinen Traum leben“ könnte.

Das erklärt auch die seltsame Verquickung individueller und kollektiver Elemente in allen modernen politischen Ideologien. Auch dem kollektivistischen Kommunisten geht es eigentlich um den Nutzen der individuellen Menschen. Auch dem liberalen Individualisten bleibt nichts anderes übrig, als zur subjektiven Nutzenmaximierung des Individuums zu letztlich totalitär-kollektivistischen Mitteln der Umerziehung und der Volksbeglückung zu greifen.

Die heutige Gesellschaft, die paradigmatisch eine Gesellschaft der Nutzenmaximierung ist, zerstört daher wahre Gemeinschaft ebenso wie wahre Individualität. Die Individualisten erkennen nur die Erfüllung individueller Bedürfnisse und Präferenzen als legitimes Gesellschaftsziel an, und um möglichst alle Präferenzen zu befriedigen, wird ein umfassendes, jede Individualität erstickendes Programm organisierter Beglückung vertreten – faktisch ist Liberalismus inzwischen dazu verkommen. Selbst unter der Herrschaft des Individualismus hat das Individuum keine Chance.

Letztlich verschwimmen in einer solchen Gesellschaft Kollektivismus und Individualismus ineinander, und aus der einstmals lebhaften Konfliktschärfe des Gegensatzes wird zunehmend, in der Spätphase ihres Lebenszyklus, eine blutleere Funktionärskaste, deren „Parteien“ sich kaum voneinander unterscheiden, was sie nicht davon abhält, um Posten und Funktionen im organisierten, kollektiven Zwangsbeglückungsstaat des radikalen Individualismus zu streiten. Mehr und mehr wird politischer Diskurs dann eine Show, ein Beispiel für Entertainment, und wahre Entscheidungen werden direkt von den Experten getroffen, von den Technokraten, die sich nicht dem alljährlichen Wahlzirkus stellen müssen.

Entdemokratisierung ist die logische Folge und Verfallserscheinung dieses Gesellschaftsprojekts.

Organisierte Anarchie

Wenn wir nun einige zentrale Wesensmerkmale und Strukturkennzeichen der nutzenmaximierenden modernen Gesellschaft aufgefunden haben, dann gilt es immer noch, diese auf einen Begriff zu bringen, der ihr Wesen trefflich auszudrücken vermag. Mir scheint dafür vielleicht der Begriff „organisierte Anarchie“ geeignet zu sein, denn einerseits ist der moderne Staat so gründlich und umfassend durchorganisiert, wie keiner vor ihm, andererseits existiert er allein zu dem expliziten Zweck, jeden Menschen von der Herrschaft zu befreien, die ihm einmal Vorschriften darüber machte, was er zu glauben habe, was moralisch und was unmoralisch sei, was ein gutes Leben sei etc.

Der moderne Staat als totaler Staat

Es ist nach dieser Auffassung letztlich die Unterdrückung durch den „wissenschaftlich“ organisierten Volksbeglückungsstaat, durch die der Mensch von Unterdrückung frei werden kann. Nur die Unterwerfung unter diesen Staat kann den Menschen wirklich frei machen. Man erkennt leicht, dass ein solcher Staat faktisch religiöse Funktionen übernommen hat, wie „neutral“ er sich auch immer gerieren mag. Die befreiende Tyrannei, oder die organisierte Anarchie ist notwendig ein totaler Staat. Totalitarismus heißt nicht Faschismus oder Kommunismus, sondern einfach, dass der Staat letztlich die Hoheit über alle Lebensbereiche hat. Und dies wird ihm heute kaum noch ernsthaft bestritten. Es ist daher gerechtfertigt, den modernen Staat als den seinem Wesen nach prinzipiell totalen und sogar totalitären Staat zu kennzeichnen.

Ersatzmessianismus

Nur der moderne Staat kann den Menschen von seiner Unterdrückung durch andere erlösen (und ich wähle dieses Wort mit Bedacht). Der moderne Staat ist letztlich ein Ersatz für die messianischen Hoffnungen des säkularen Ex-Christen des modernen Westens.

Dieser so beschriebene moderne Staat wird aufgrund seines totalen Anspruchs praktisch identisch mit der modernen Gesellschaft. In jeden Bereich reicht der Staat hinein – Wirtschaft, Bildung, Familie, Medien, Unterhaltung etc. Grenzen, gleich ob moralisch, religiös oder praktisch, erkennt er nicht mehr an.

Die große Verfolgung

Aufgrund verbliebener Reste christlicher Zurückhaltung und demokratischer Verantwortlichkeit scheut er sich derzeit noch, alle Grenzen restlos zu überschreiten und alle Dissidenten mittels modernster Technologie zu verfolgen und zu exterminieren (wofür etwa durch Drohnen, Datenspeicherung und Abschaffung des Bargelds bereits heute wichtige Voraussetzungen geschaffen werden).

Andere Geschmacksrichtungen des totalen Staats haben derartige Skrupel nicht gehabt. In seiner kommunistischen und faschistischen Variante hat der totale Staat zu schrecklichen Völkermorden geführt. Die „organisierte Anarchie“ hat dieses Stadium noch nicht erreicht. Dies ist jedoch nur eine Frage des Entwicklungsstadiums – der heutige Staat ist noch nicht so weit. Er hat nicht den Weg der revolutionären Umwälzung gesucht, sondern sich durch stetige Reformen „totalisiert, und dieser Prozess ist noch längst nicht vobei. Der Reformstaat geht langsamer, bedächtiger vor als der Revolutionsstaat, doch das ändert nichts daran, dass sie beide zum gleichen Ziel hin unterwegs sind, oder um die moderne Phrase zu verwenden, dass sie beide zum gleichen Ziel hin fortschreiten.

Für Christen bedeutet dies dasselbe, wie in allen Staaten dieses Typus, angefangen vom dekadenten Römischen Reich mit seinem vergöttlichten Kaiser bis zu den Gulags der Sowjetunion. Der Wind weht aus den Tiefen und die Verfolgung naht. Denn Christen können niemals einen totalen Staat anerkennen und ihm die Art Huldigung erweisen, die er notwendig früher oder später sowohl in formalen Gesten als auch in alltäglichem Verhalten von seinen „befreiten“ Untertanen erwarten muss.

Vom modernen Staat und seinem Charakter (Teil 2 von 3)

Manipulation der mechanischen Gesellschaft

Eine weitere Tendenz einer hypothetischen Gesellschaft der Nutzenmaximierer wird daraus sofort offensichtlich. Der Nutzen kann nur maximiert werden, wenn man erkannt hat, wie man die Gesellschaft für seine eigenen Zwecke manipuliert. Die „wissenschaftliche“ Expertise der Elite wäre für das Selbstverständnis dieser Gesellschaft von entscheidender Bedeutung. Was dieser Expertise im Wege steht, was sie ablehnt, müsste aus dem Weg geräumt werden. Alternative Zentren von Wissenschaftlichkeit und Weisheit könnten nicht geduldet werden, da sie die Expertise der Elite bezweifelten, und damit die Maximierung des Nutzens gefährdeten. Um der Maximierung ihres Nutzens Willen würde die Elite sich dazu berufen fühlen, die über ihren wahren Nutzen in Unkenntnis befindlichen, unaufgeklärten Volksmassen durch staatliche und „zivilgesellschaftliche“ Umerziehung zur Einsicht in die Richtigkeit der von der Elite vorgeschlagenen Reformen zu bewegen. Das Motiv der „Aufklärung“ wäre ebenso dominant wie das Motiv des „Fortschritts“.

Zwischenbilanz: Wesensmerkmals

Fassen wir zusammen, was wir bisher gesagt haben: Die Gesellschaft der Nutzenmaximierer müsste notwendig bestimmte Charakteristika aufweisen, die zu ihrem Wesen gehören:

1. Sie müsste demokratische Institutionen haben, oder zumindest nach ihnen streben.

2. Sie müsste individualistisch sein, also das Individuum als Grundbaustein der Gesellschaft betrachten.

3. In ihr wäre der zentrale Interessenkonflikt ideologischer Natur: Zwischen denen, die den subjektiven Nutzen des Individuums ins Zentrum ihres Denkens stellen, und denen, die den kollektiven Nutzen der Gesamtheit auch auf Kosten des Nutzens von Minderheiten priorisieren.

4. Beide Seiten dieses Konflikts würden nach dem Mantel der Fortschrittlichkeit streben,

5. Beide Seiten dieses Konflikts würden nach dem Mantel der Wissenschaftlichkeit streben.

6. Es gäbe eine Elite, die sich nicht durch Herkunft, sondern durch im weitesten Sinn „sozialwissenschaftliche“ Expertise (oder ihre Vorspiegelung) definiert, und die notwendig die Deutungshoheit über den Nutzenbegriff anstrebt.

Moral, Religion und Wahrheit

Aus diesen Erkenntnissen können wir noch weitere Wesensmerkmale einer Gesellschaft des untersuchten Typus ableiten:

7. Der Begriff des Guten würde nur als „Gut für…“ und nicht als „Gut an sich“ verstanden. Mit anderen Worten: „Gut“ wäre ein Prädikat, mit dem man über die Effizienz und Effektivität von Maßnahmen zum vorgegebenen Ziel der Nutzenmaximierung spricht. „Gute“ Politik wäre Politik, die tatsächlich den Nutzen maximiert.

8. Moralische Fragen wären in einer solchen Gesellschaft ebenso wie religiöse Fragen Privatsache. Glaube doch, wenn es dir nützlich ist, und nicht dem Nutzen anderer schadet, aber in der Öffentlichkeit hat das nichts zu suchen. Ebenso in der Moral: Wenn du meinst, du müssest bestimmte moralische Prinzipien verfolgen, um Deinen Nutzen zu maximieren, dann tu‘ es. Aber du darfst dir nicht anmaßen, anderen die Befolgung dieser Prinzipien aufzudrängen. Insbesondere der Staat darf sich in seinen Gesetzen nicht von moralischen Erwägungen leiten lassen.

9. Die Frage nach der Wahrheit verschwände aus dem öffentlichen Bewusstsein und verlöre ihre Relevanz auch für die Expertenelite. Es käme nicht mehr darauf an, ob eine bestimmte Aussage der Wahrheit entspricht, sondern ob sie nützlich für das gegebene Ziel der Nutzenmaximierung wäre.

Ideologischer Protest

10. Aus dem ideologischen Individualismus der nutzenmaximierenden Gesellschaft und der widersetzlichen Gegebenheit der Wirklichkeit würden immer wieder radikale Ideologien hervorgehen, die periodisch die junge Generation begeistern und eine grundlegende Erneuerung der Gesellschaft fordern würden, da diese die in sie gesetzte Erwartung der Nutzenmaximierung nicht erfüllt haben. Solche Bewegungen würden von der fehlenden Nutzenmaximierung bestimmter Gruppen (z.B. Frauen, Arme, Ausländer, Minderheiten aller Art…) ausgehend nach der Revolution rufen, um endlich Gerechtigkeit, d.h. Chance auf Nutzenmaximierung, für alle zu schaffen.

11. Solche Ideologien würden regelmäßig blutig scheitern, da die Wirklichkeit immer widersetzlich bleibt, und der maximale materielle Nutzen einer Gruppe meist nur mit Kompromissen hinsichtlich des maximalen materiellen Nutzens anderer Gruppen zu erkaufen wäre. Aus diesem Grund würde sich die ideologische Auseinandersetzung in dieser Art Gesellschaft entlang soziologischer Gegensätze (Geschlecht, Alter, Wohlstand, Klasse, Ethnizität, Herkunft, Hautfarbe etc.) polarisieren.

Dies wären einige zentrale Wesensmerkmale einer Gesellschaft der Nutzenmaximierer. Dem Leser ist sicher längst aufgefallen, dass es sich bei dieser „hypothetischen“ Gesellschaft in Wahrheit um die typische moderne, westliche Gesellschaftsform handelt, die daher auf der Basis ihrer eigenen (oft unausgesprochenen) Prämissen durchaus in sich logisch konsistent ist.

Ideologie und Ideologiekritik

In einer solchen Gesellschaft wäre es sicher üblich, die nackte Verfolgung des eigenen Nutzens mit allerlei wohlklingenden Floskeln zu beschmücken, doch letztlich wäre eine solche Gesellschaft nicht in der Lage, Werte und Überzeugungen jenseits der Nutzenmaximierung überhaupt in Betracht zu ziehen. Alles würde mit der Zeit und dem Verfall alternativer Denkmuster immer mehr unter die Linse der nackten Rationalität des Nutzens fallen. Heroisch würden sich dagegen Idealisten aller Schattierungen hervortun, die die „Ökonomisierung“ und „Rationalisierung“ scharf kritisieren, die pathetisch von der „Würde der Menschen“ sprechen und „Gerechtigkeit“ fordern. Sie würden die Frage der Moral stellen und der Gesellschaft ihren hässlichen Spiegel vorhalten. Sie würden die Gesellschaft und ihre verborgenen egoistischen Motive „demaskieren“, in klassisch ideologiekritischer Form. Als Quelle kritischer Argumente gegen diese verarmte Gesellschaft der engen, ökonomischen „Rationalität“ wären diese idealistischen Bewegungen äußerst nützlich. Rezepte zur Lösung dieser Probleme hätten sie auch keine zu bieten, da sie letztlich im Spektrum der Nutzenmaximierer stecken blieben, sich nur mehr auf den Nutzen der Gesamtheit beziehen, denn auf den als verwerlich erkannten, letztlich als Egoismus verstandenen Einzelnutzen. Diese Bewegungen wären daher in ihrer Motivation äußerst sympathisch, und würden deshalb sehr viele Menschen, die nach Gerechtigkeit hungern, anziehen, doch sie wären bereits an ihrer Wurzel korrumpiert, da es sich um dieselbe Wurzel handelt, nämlich um den gemeinsamen Grundkonsens der Nutzenmaximierung.

Vom modernen Staat und seinem Charakter (Teil 1 von 3)

Wie soll man den Zustand der heutigen Gesellschaft beschreiben?

Um etwas beschreiben zu können, muss man es zunächst verstehen. Eine Beschreibung ist umso treffender, je näher sie an das Wesen des Beschriebenen herankommt. Verstehen bedeutet, eine Sache ihrem Wesen nach zu erkennen, und nicht nur verschiedene äußerliche Eigenschaften anzugeben. Wir beschreiben einen Menschen, wenn wir sagen, er sei 1,80m groß, habe blonde Haare und eine Fistelstimme. Doch wir treffen damit nicht sein Wesen. Er könnte doch kleiner sein, schwarzhaarig und stumm, und bliebe immer noch im Grunde derselbe Mensch, nur einige äußerliche Merkmale wären anders. Das, was beim individuellen Menschen wirklich wesentlich ist, könnte man seinen Charakter nennen. Ebenso wollen wir das Wesentliche an einer spezifischen Gesellschaft bezeichnen.

Allgemein gesprochen sind staatliche Gesellschaften zur Sicherung des diesseitigen Gemeinwohls da. Man kann verschiedene Arten solcher Gesellschaften danach unterscheiden, auf welche Weise sie nach diesem gemeinsamen Ziel streben, und was sie als Gemeinwohl ansehen. Diese zwei Arten von Differenzen sind sehr eng miteinander verbinden. Wenn eine Gesellschaft unter Gemeinwohl die Nutzenmaximierung der Mehrzahl ihrer Mitglieder versteht, dann werden die Methoden, die Mittel und Wege, auf denen die Gesellschaft zu ihrem Ziel voranzuschreiben beabsichtigt, dazu tendieren, bestimmte Gestalt anzunehmen, die sich besonders für das gegebene Ziel eignet. Je nach dem Zweck einer Gesellschaft werden ihre Institutionen eine andere Form einnehmen, auf unterschiedliche Weise wirken, und die Gesellschaft wird aus unterschiedlichen Grundelementen aufgebaut sein. (Für philosophisch interessierte Leser: Das alles ist nur die Anwendung der aristotelischen Vierursachenlehre auf das staatliche Zusammenleben der Menschen.)

Institutionen, Demokratie und Individualismus

Eine Gesellschaft der Nutzenmaximierer, um das vorige Beispiel aufzugreifen, hat sich als ihren Zweck die Maximierung des individuellen Nutzens der Mehrzahl gesetzt. Um diesen Zweck erreichen zu können, wird sie sich demokratische Institutionen geben, damit die Mehrzahl das, was sie für ihren Nutzen hält, den Regierenden auf organisierte Weise effektiv kundtun kann, und die Regierenden mindestens langfristig nicht anders können, als nach besten Kräften für die Durchsetzung des Mehrheitsnutzens einzutreten, da sie sonst abgewählt würden. Die institutionellen Formen der Gesellschaft werden also demokratisch sein, und die Bewahrung der Demokratie würde in einer solchen Gesellschaft allgemein als grundlegendes Ziel angesehen, und selbst von denen, die eigentlich eine andere Art von Gesellschaft favorisieren, als Beschwörungsformel im Mund geführt, um sich nicht dem Volkszorn der nutzenmaximierenden Mehrheit preiszugeben.

Eine Nutzenmaximierer-Gesellschaft würde als ihren materiellen Grundbaustein das Individuum angeben. Sie wäre in ihrer Selbstdarstellung sehr individualistisch, da es doch letztlich auf den individuellen Nutzen des Einzelnen ankommt, der da maximiert werden soll. Familien, religiöse Institutionen und alle anderen Zusammenschlüsse würden in einer solchen Gesellschaft dann und nur dann geschätzt, wenn sie nach der Meinung der Nutzenmaximierer den individuellen Nutzen des Einzelnen oder den Gesamtnutzen der Gesellschaft optimieren.

Grundkonflikt der Nutzenmaximierer-Gesellschaft

Damit ist auch der zentrale politische Grundkonflikt einer solchen Gesellschaft bereits vorgezeichnet. Es tritt ganz von selbst ein Interessengegensatz zwischen zwei Gruppen auf, die sich beide die Maximierung des Nutzens auf die Fahne geschrieben haben, diesen Nutzen aber unterschiedlich interpretieren. Für die eine Seite dieses Konflikts wäre der individuelle Nutzen des Einzelnen entscheidend, und sie würden auf den ideologischen Individualismus pochen, der wesentlich für diese Gesellschaftsform wäre. Wenn es zum Konflikt zwischem dem Einzelnutzen und dem Gesamtnutzen der Gesellschaft kommt, würden sie Partei für den Einzelnutzen ergreifen. Umgekehrt gäbe es notwendig in einer solchen Gesellschaft eine Seite, die für die Maximierung des Gesamtnutzens auch dann eintreten würde, wenn es dem Einzelnutzen einer Minderheit von Individuen schadete. Die erste Seite würde ihre Haltung unter Berufung auf den grundlegenden Individualismus begründen, und sicher nach allerlei Mittel und Wegen suchen, die Verwirklichung möglichst vieler Einzelnutzen mit der Maximierung des Gesamtnutzens gleichzusetzen. Die andere Seite würde ihren Gegnern vorwerfen, egoistische Motive zu verfolgen und sich dem Fortschreiten der Gesellschaft zu ihrem Ziel der Nutzenmaximierung zu widersetzen. Sie würde sich den Mantel der Fortschrittlichkeit umhängen, und die andere Seite der Ungerechtigkeit bezichtigen.

Gerechtigkeit und Nutzenmaximierung

Überhaupt könnte eine Gesellschaft der Nutzenmaximierer Gerechtigkeit nur noch als die Chance, seine eigene, private Nutzenvorstellung für sich umsetzen zu können, verstehen. Ungerecht wäre nach ihren eigenen Maßstäben alles, was andere Menschen davon abhielte, ihren eigenen individuellen Nutzen zu maximieren. Hier taucht dann wieder der Grundkonflikt dieser Gesellschaft auf: Wann und unter welchen Umständen ist es gerechtfertigt, den Nutzen einzelner Menschen zu mindern, um der Gesamtheit zu helfen? Ist es gerecht, einer kleinen Gruppe Unrecht zu tun, weil dies gut für die Mehrheit und die Gesamtheit wäre? Ist das Individuum wichtiger als das Kollektiv? Ist es gerechtfertigt, den Reichen zwangsweise zu nehmen, um den Armen zu geben? Fragen dieser Art würden den Gerechtigkeitsdiskurs einer nutzenmaximierenden Gesellschaft dominieren.

Technokratie, Expertise und Scheinwissenschaft

Sie gäbe sich demokratische Institutionen und würde zwischen einem ideologisch grundlegenden Individualismus und einem Hang zum Kollektivismus als Maximierung des materiellen Gesamtnutzen tendieren, der noch eine weitere wichtige Folge hätte. Da die Nutzenmaximierung absolut zentral wäre, würde die Gesellschaft ihre geistigen und materiellen Ressourcen so stark wie möglich auf die Erforschung materieller Mittel und Wege richten, wie man denn den Nutzen der Mehrzahl maximieren kann. Man würde wissen wollen, nach welchen Mechanismen die Gesellschaft funktioniert, und wie man sie durch politisches Handeln so modifizieren kann, dass sie dem gegebenen Ziel möglichst nahekommt. Mit anderen Worten: In einer solchen Gesellschaft gäbe es so etwas wie Sozialwissenschaft (im weitesten Sinn des Wortes, inklusive Ökonomie etc.), und ihre Vertreter hätten die Reputation, die Experten für die Planung der Gesellschaft zu sein. Ihre Aufgabe wäre, den Mechanismus der Gesellschaft zu erkennen, damit er zur Erreichung der politischen Ziele beliebig manipuliert werden könnte. Es wäre unausweichlich, dass es zur Bildung einer Elite käme, die sich aus diesen Experten – Soziologen, Ökonomen, Psychologen, Juristen etc. – rekrutierte. Diese Elite wäre einigermaßen homogen, insofern sie identische Interessen hinsichtlich der Manipulation der Gesellschaft durch staatliches und „zivilgesellschaftliches“ Handeln hätte. Es wäre natürlich, dass für diese Elite gewachsene Strukturen, die der wissenschaftlichen Nutzenmaximierung im Wege stünden, keinen Wert besäßen und insofern wäre diese Elite „fortschrittlich“. Allerdings wäre sie trotz ihrer relativ homogenen Interessenstruktur unausweichlich in dieselben zwei Lager gespalten, die auch die breitere Gesellschaft spalten würde. Auch hier würde die Frage aufbrechen, ob es im Konfliktfall um den Nutzen des Einzelnen gehen solle, oder ob dieser hinter dem Gesamtnutzen zurückstehen sollte.

Ein Fall für interreligiöse Solidarität

Das Landgericht Köln hat kürzlich ein Urteil gefällt, demzufolge die Beschneidung von jüdischen Jungen als Körperverletzung zu gelten habe und zudem die religiöse Selbstbestimmung der Beschnittenen verletzt worden sei. Kath.net berichtet über dieses Urteil und fasst auch einige der Reaktionen verschiedener Religionsgemeinschaften, darunter Juden, Christen und Muslime, zusammen.

Wir haben hier wieder einmal einen typischen Fall, bei dem ein angebliches, totalisiertes Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen nicht nur über die Religionsfreiheit der Eltern und ihr legitimes, in der Verfassung verankertes Erziehungsrecht gestellt wird, sondern auch noch zur Grundlage der Kriminalisierung eines Initiationsritus einer der großen Weltreligionen verwendet wird.

„Religionsfreiheit“

Regelmäßige Leser des Blogs werden sich entsinnen, dass der Autor sehr wenig von der liberalen Religionsfreiheit hält, und selbst ihre abgeschwächte und qualifizierte Version, wie sie das II. Vatikanische Konzil zu unterstützen scheint, durchaus kritisch sieht. Ich bin durchaus nicht der Meinung, dass die Religionsfreiheit, also das Recht, seine Religion auch öffentlich auszuleben, ein Naturrecht ist. Es kann also legitim sein, wenn es dafür gute Gründe gibt, die Ausübung bestimmter religiöser Präferenzen zu untersagen und sogar staatlich zu bestrafen. Dies ist jenseits aller radikalen Freiheitsrhetorik auch vollkommen unstrittig. Natürlich muss die Polizei gegen Menschenopfer vorgehen, die etwa von Satanisten durchgeführt werden könnten. Strittig wird das erst, wenn man die Frage stellt, nach welchen Kriterien der Staat bei dieser Beschränkung der Religionsfreiheit vorzugehen hat. Wendet man dies relativistisch, so beschränkt der Staat die Ausübung von Religionen, die sich zu weit von den gesellschaftlichen und kulturellen Normen der Gesellschaft entfernt haben. Dies wird der Vorwand für die zukünftige Verfolgung der katholischen Religion sein.

Wendet man dies im traditionellen Sinne und bezieht es auf die Existenz objektiver Wahrheit, dann landet man bei der traditionellen katholischen Position. Der Staat beschränkt die Ausübung der Religionen, die zu weit von der Wahrheit entfernt sind, und daher durch ihre Irrlehren und falschen Riten das Gemeinwohl der Gesellschaft gefährden.

Doch egal wie man es wendet: Absolute Religionsfreiheit gibt es nicht, kann es nicht geben, wird es nicht geben, und fordert auch überhaupt niemand wirklich.

Die Frage lautet also immer nur: Welche Religionen sollen frei sein? Diejenigen, die sich besonders gut mit dem gerade herrschenden Stimmungsbild der Gesellschaft und ihrer Eliten decken, oder diejenigen, die sich am besten mit der Wahrheit decken?

„Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen“

Ebenso ist auch das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, auf das das Landgericht abhebt, leider ein Mythos. Niemand will, dass der Einzelne immer über alles bestimmen kann. Der Einzelne, der sich für Mord entscheidet, der kann das wohl bestimmen, aber andere bestimmen dann, dass er in Zukunft eingesperrt wird. Niemand hält das für falsch. Die Frage ist also wieder nur: Über welche Handlungen soll der Einzelne bestimmen dürfen?

Wieder stellt sich bloß die Frage nach dem Kriterium für die Beschränkung dieses vorgeblichen „Selbstbestimmungsrechts“. Der moderne Relativist wird nur die Standards der Kultur, der Gesellschaft, oder ihrer Elite angeben können. Was gerade als akzeptabel gilt, das kann jeder tun. Was als inakzeptabel gilt, das wird verfolgt oder verboten. Die Kirche hat traditionell immer den Standard der Wahrheit angelegt. Jeder kann selbst bestimmen, solange er nicht gegen die Wahrheit handelt und dadurch das Gemeinwohl der Gesellschaft, das in dieser Wahrheit verankert ist, gefährdet.

Doch ob man relativistische oder christliche Kriterien anlegt – es bleibt dabei, dass niemand ein unbeschränktes Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen auch nur ernsthaft fordert. Alle sind sich einig, dass es Grenzen geben muss. Die Frage ist nur, wo sie verlaufen sollen.

Das Erziehungsrecht der Eltern

Das Erziehungsrecht der Eltern ist in der heutigen Kultur nicht gerade hoch angesehen. Eltern können ihre Kinder aus vollkommen trivialen Gründen verlieren, oder von staatlichen Institutionen so stark in ihrer Tätigkeit behindert werden, dass sie über das Kind gar nicht mehr wirklich selbst entscheiden können. Spätestens ab dem sechsten Schuljahr werden die Kinder in die staatliche Indoktrinationsanstalt namens Schule eingewiesen – Eltern werden ihre natürlichen Rechte an ihren Kindern genommen oder so stark beschnitten, dass man sie kaum noch als solche zu erkennen vermag.

Diese Art Beschneidung scheint das Landgericht nicht schlimm zu finden.

Die Entscheidung des Landgerichts ist allerdings vollauf verständlich, wenn man die heute geltenden Standards der modernen westlichen Welt anlegt. Die „körperliche Unversehrtheit“ des Kindes ist auf eine geradezu perverse Weise von Jugendbürokraten zum Fetisch erhoben worden, dass es ausreicht, wenn Kinder übergewichtig sind, oder die Eltern bewährte Erziehungsmethoden wie die Tracht Prügel anwenden, damit der Staatsapparat ihnen ihre Kinder entreißt. Wenn diese „Vergehen“ der Eltern ausreichen, um sie an den Pranger zu stellen und gar strafrechtlich zu belangen, dann nimmt es nicht Wunder, wenn die Beschneidung als „Verstümmelung“ erscheint.

Denn der „versohlte“ Hintern heilt nach ein paar Tagen wieder ganz von allein. Die Beschneidung bleibt. Und dass Eltern, denen man das Recht zur maßvollen Anwendung der Körperstrafe abspricht, auch nicht die Befugnis haben können, ihr Kind zu „verstümmeln“ – dauerhafte Veränderungen an ihm vorzunehmen –  ist so pervers wie folgerichtig.

Das Skandalurteil des offensichtlich in Allmachtsvorstellungen des Staates schwelgenden Landgerichts ist damit Ausdruck eines breiteren gesellschaftlichen Trends zur staatlichen „Verwaltung“ und „Betreuung“ der Kinder auf Kosten des natürlichen Erziehungsrechts der Eltern.

Die Selbstbestimmung in der Religion

Für das Judentum ist das jüdische Volk mit der jüdischen Religion eng verbunden. Ein Volk besteht aus vielen Generationen, in denen eine gemeinsame Tradition von Eltern zu Kindern immer weitergetragen wird. Das jüdische Volk trägt seit Jahrtausenden seine Traditionen auf diese Weise immer weiter, von Generation zu Generation. Wenn Eltern ihre Kinder nicht mehr beschneiden dürfen, dann verbietet ein tyrannisch agierender Staat den jüdischen Eltern die Weitergabe der Zugehörigkeit zu dem Volk, das nach jüdischer Auffassung das Bundesvolk Gottes ist. Die Beschneidung als sichtbares und wirksames Zeichen dieses Bundes ist daher ein notwendiger Teil des Judentums. Eltern, die ihre Kinder nicht beschneiden lassen, verstoßen gegen ein höheres, nämlich religiöses, Gesetz. Kein Staat kann dazu verpflichten – die Eltern hätten die subjektive religiöse Pflicht des Ungehorsams gegen ungerechte weltliche Autoritäten.

Die Beschneidung entscheidet im übrigen nicht, ob ein Beschnittener später auch dem jüdischen Glauben anhängt. Das kann er schon weiterhin frei entscheiden. Nur, beschnitten bleibt er natürlich immer. Wir haben hier eine offensichtliche Parallele zur Taufe: Der Getaufte kann nicht entscheiden, ob er getrauft wird. Meist geschieht das ja in ganz jungem Alter. Er kann zwar später aus der Kirche austreten, doch er bleibt für den Rest seines Lebens getauft, er bleibt mit dem Zeichen der Taufe bezeichnet, oder sollte man sagen, gezeichnet.

Das Landgericht müsste nach dem modernen Verständnis der Religionsfreiheit mit demselben Recht also auch gegen die sakramentale Taufe aus Gründen der „religiösen Selbstbestimmung“ vorgehen können, wie es die Juden mit ihrer Beschneidungsvorschrift jetzt erfahren müssen.

Antisemitismus oder Imperialindividualismus?

Ich bin mit dem Vorwurf des Antisemitismus immer sehr vorsichtig. Und auch hier scheint er mir nicht angemessen. Das Urteil ist zwar falsch und sogar skandalös, aber es lässt nicht auf Antisemitismus oder Antijudaismus schließen. Das mag zwar vielleicht auch im Spiel sein, doch es scheint mir von nachrangiger Bedeutung. Das Urteil speist sich aus der üblichen Abneigung gegen das natürliche Erziehungsrecht der Eltern, wie sie unter Sozialisten grüner, roter, brauner und jeder anderen Färbung verbreitet ist. Hinzu kommt eine damit verwandte hysterische Übertreibung der Selbstbestimmungsrechte des Einzelnen. Der Einzelne ist eben nicht nur Einzelner, sondern als Person immer schon Teil einer, auch hierarchischen, auch autoritären Gemeinschaft von Personen. Er ist kein leeres, unbeschriebenes Blatt, das sich langsam selbst beschreibt, sondern immer bereits vorgeprägt durch seine Bindungen.

Und ebenso ist der jüdische Junge eben immer schon vorgeprägt durch seine Beschneidung, wie das christliche Kind immer schon durch das Zeichen der Taufe vorgeprägt ist. Wenn das eine gegen die Selbstbestimmung verstößt, dann tut es auch das andere.

Ein Fall für interreligiöse Solidarität

Hier haben wir die klassische Situation, in der Zusammenarbeit zwischen den Religionen über alle Glaubensdifferenzen hinweg wirklich sinnvoll ist. Alle Christen und alle Menschen anderer Religionsgruppen sollten an dieser Stelle wie ein Mann hinter den jüdischen Mitmenschen stehen, die nun durch exzessive, tyrannisch eingesetzte staatliche Gewalt wieder einmal an die Wand gedrängt und womöglich gar kriminalisiert werden sollen. Es ist dies ein Vorgeschmack dessen, was allen ernsthaft religiösen Menschen droht, wenn sie sich der Woge des Säkularismus nicht entschlossen entgegenstellen. Sie holten die Juden, doch es störte mich nicht, weil ich kein Jude war. Sie holten die Salafisten, doch es störte mich nicht, weil ich kein Salafist war.

Und am Ende holten sie uns Christen, und es war niemand mehr da, der sich daran hätte stören können.

In diesem Sinne: Solidarität mit den Anhängern der falschen Religion des Judentums!

„Soziale Gerechtigkeit“ als Irrweg

Alexander Kissler schreibt in gewohnt hoher Qualität im Vatican-Magazin über die „Innere Verzwergung“ des modernen Westmenschen. Der Artikel ist online einsehbar, und es lohnt sich wirklich ihn in Gänze zu lesen. Hier wie üblich einige (längere) Auszüge mit eingestreuten Kommentaren in roter Schrift von Catocon:

Manchmal ist alles furchtbar leicht, wollen alle das Beste, das wunderbarerweise Dasselbe ist (es ist dies die gutmenschliche Ursuppe), planetarische Glückseligkeit (die gefährlichste Idee seit der Schlange) breitet sich aus: Wer ist denn nicht für Nächstenliebe und Solidarität und gegen soziale Ungleichheit? Sahra Wagenknecht mag da ebenso wenig abseits stehen wie geschätzte 95 Prozent der hiesigen Bevölkerung. Weil dem so ist, warb die atheistische Kommunistin auf dem „Katholikentag“ des Zentralkomitees für eine engere Zusammenarbeit von Kirche und „Linkspartei“. Jeder, der die gesellschaftliche Gerechtigkeit stärken will, sei herzlich eingeladen, sich bei der „Linkspartei“ zu engagieren. (Aber was ist diese „gesellschaftliche“ oder „soziale“ Gerechtigkeit? Kissler zerlegt diesen Gedanken gleich.)
Jesus aber war nicht nur, wie das Buch eines evangelischen Theologen klarstellt, „kein Vegetarier“. Er war ebenso gewiss kein Kommunist. (Das könnte man aber aus der durchschnittlichen Verkündigung im evangelischen und selbst im katholischen Bereich nicht ersehen. Ich kann nur immer wieder bis zum Erbrechen auf Divini Redemptoris für das perfekte Gegenbeispiel verweisen.) Gerade wurde eine Streitschrift mit dem Titel „Jesus, der Kapitalist“ angekündigt. (Ein Kapitalist war Jesus aber auch nicht. Diese Kategorie existierte zur Zeiten des irdischen Lebens Jesu überhaupt gar nicht.) Der Unterschied zwischen den sozialistischen Gerechtigkeitsphantasien und dem christlichen Gerechtigkeitsimperativ ist gravierend. (Das ist richtig. Ebenso ist der Unterschied zwischen den kapitalistischen Effizienzphantasien und dem christlichen Gerechtigkeitsimperativ gravierend. Keine der einfachen, typisch modernen Ideologien vermag die Tiefe christlichen Denkens darzustellen. Deswegen ist die katholische Soziallehre auch weder kapitalistisch noch sozialistisch. Sowohl Kapitalismus als auch Sozialismus sind innerweltliche Ideologien.) Er passt in kein Weihrauchgefäß. Wenn Sozialisten und die vereinigte Sozialdemokratie aus SPD, CDU, Grünen von Gerechtigkeit reden und Solidarität, dann denken sie an den Staat. Er soll weiter wachsen, damit er Gerechtigkeit zuteile und Solidarität verwalte. Der feiste Hegemon – ein Garfield in Bürokratengestalt – soll den Bürger der Sorge um den Mitbürger entheben, indem er allen die Taschen leert. Vor Gott und dem Staat soll jedes Menschenwesen gleich bedürftig erscheinen. (Nicht „vor Gott und dem Staat“. Da unterstellt man eine Dualität, die so im wesentlich atheistischen Sozialdemokratismus nicht existiert. Gott wird geleugnet und deswegen rückt der Staat bei den Sozialisten an seine Stelle. Dasselbe machen Kapitalisten der Tendenz nach mit dem „Markt“.)
Biblisch ist das nicht, christlich nicht, katholisch nicht; wenngleich vom allgemeinen Staatstaumel längst führende Kreise der Kirche infiziert sind – die Diözese Rottenburg-Stuttgart (unter Bischof Fürst, dem Fürsten des Modernismus) und ihr Caritasverband etwa, die beide ins selbe Horn blasen, wenn sie das Betreuungsgeld ablehnen (sie sind halt modern. Heute kann man es von der Mutter nicht mehr verlangen, dass sie sich um ihre Kinder kümmert. Und vom Vater nicht mehr, dass er sich um seine Familie – inklusive Mutter und Kindern – kümmert. Schließlich herrscht die individuelle Autonomie, auch bekannt als „imperialer Egoismus“. Das Problem des Betreuungsgeldes ist, dass nur scheinbar Abhilfe schafft, solange es mit einer weit höheren staatlichen Förderung von Kinderverwahranstalten kombiniert wird.), die staatliche „Kleinkindbetreuung“ preisen, die „Kita“ selig sprechen und das elterliche Erziehungsrecht gering achten. (Genau das ist die christliche Alternative. Die ELTERN, nicht der STAAT, haben das erste und ursprüngliche Erziehungsrecht für ihre Kinder. Solange sie ihnen keinen schweren, nachweisbaren körperlichen Schaden zufügen, ist es die Sache der ELTERN, nicht des STAATES, für die Kinder zu sorgen.) „Der Ausbau der Betreuungsplätze für unter Dreijährige ist ohne Alternative“ , ließen Bistum und Caritas verlauten. (Falsch. Die Alternative wäre die christliche Soziallehre mit ihrer bei allen Modernisten unpopulären Lehre von der natürlichen Familie. Doch die verträgt sich leider nicht mit dem Karrierefetischismus des Feministen und der raubtierhaften Gier, die das Verhältnis des modernen Menschen zum Konsum so treffend beschreibt.) So redet, wer dem Staat neue Untertanen zutreiben will und der Gottesebenbildlichkeit des Menschen nicht so recht über den Weg traut. (Weil es nach Ansicht der Ideologie keinen Gott gibt. Und die „katholischen“ FunktionärInnen übernehmen die wesentlichen Teile dieser Ideologie unhinterfragt. Wo ist die Ideologiekritik, wenn wir sie brauchen?)
Was nämlich kam durch das Christentum einst in die Welt? Der Soziologe Franz Kromka erinnert an eine fast vergessene Wahrheit: „Im Gegensatz zu anderen Religionen rückt das Christentum das Individuum mit seiner unsterblichen und nach ihrem Heil strebenden Seele in den Mittelpunkt. (In gewisser Weise meint der Soziologe das Richtige. Das ist bei Soziologen schon selten genug. Doch eigentlich ist nicht das Individuum, das heißt der Einzelne, sofern er Einzelner ist, sondern die Person, das heißt der Einzelne, sofern er in Gemeinschaft mit anderen Personen ist, Zentrum der christlichen Lehre vom Menschen in der Gesellschaft. Die Heilsperspektive ist individuell, aber sie ist nicht, wie der moderne Individualist es vielleicht verstehen würde, unabhängig von anderen. Wir gehen in der kirchlichen Gemeinschaft als Einzelne auf das Heil zu, Doch vielleicht langweilen diese Distinktionen meine Leser – ich halte sie für wichtig, weil eine individualistische Lesart des Christentums ebenso falsch wäre wie die heute verbreitete kollektivistische Interpretation.) Die Person (genau. Die Person. Also der Einzelne insofern er in Gemeinschaft ist oder zumindest sein kann.) existiert vor dem Staat und der universale Gott mit seiner Gerechtigkeit und vor allem Barmherzigkeit über dem Staat.“ Die Gründerväter der sozialen Marktwirtschaft sahen genau aus diesem Grund Christentum, Freiheit und Markt schicksalshaft aufeinander bezogen. Für Wilhelm Röpke (ein selten vernünftiger Ökonom. Normalerweise ist Ökonomie keine Wissenschaft, sondern eine Plage. Doch Röpke ist eine seltene Ausnahme.) war bekanntlich der Mensch das Maß der Wirtschaft, das Maß des Menschen aber sein Verhältnis zu Gott. Wo diese Letztverankerung schwindet, so Röpke 1958, entstehe „die geistig-moralische Zwergwuchsrasse, die sich willig, ja freudig, weil erlöst, zum Rohstoff des modernen kollektivistisch-totalitären Massenstaats gebrauchen lässt.“(Dies ist die Schlüsseleinsicht zum Verständnis des modernen politisch-ökonomischen Systems.)
Totalitär wird man unsere bräsige Bundesrepublik nicht nennen wollen. (Was bedeutet denn „totalitär“? Es gibt sicher viele geistreiche Definitionen. Doch in meiner Erfahrung gibt es ein absolut sicheres Kriterium, an dem man freie von totalitären Gesellschaften unterscheiden kann: Totalitär ist eine Gesellschaft dann, wenn alles auf den Staat bezogen ist. Totalitarismus bedeutet in der Praxis: „Alles ist politisch.“ Egal was passiert, immer ist der Staat zuständig, immer handelt er, immer wird er als Retter in allen Lebenslagen behandelt. Totalitarismus bedeutet, dass der Staat als Gottersatz fungiert. Nach diesem Kriterium ist die BRD vielleicht noch nicht totalitär, aber in jedem Fall rapide auf dem Weg dahin. Ein Beispiel ist die Politisierung sportlicher Großereignisse. Ein anderes die Tendenz, dass alle Probleme durch staatliche Eingriffe gelöst werden sollen.) Die Freiheitsräume jedoch des Denkens und Entscheidens schwinden. (Was wohl auch an einem strukturell totalitären Bildungssystem liegt. Die staatlichen Schulen dienen faktisch eher der Indoktrination bzw. Initiation in eine antichristliche Kulturganzheit als der Bildung im eigentlichen Sinn des Wortes.) Die innere Verzwergung (der Individualist steht hilflos vor den komplexen Problemen der Welt und wird dadurch ganz klein. Die Person, eingebunden in die Bindungen von Familie, Gemeinde, Heimat, Vaterland und Kirche, vermag auf ein stärkendes Netzwerk zurückzugreifen, das dem Zugriff des modernen Wohlstandsnomaden aufgrund seiner hochgelobten Flexibilität – zu deutsch: Bindungsunfähigkeit – entzogen ist.) schreitet voran. Das Individuum gilt als Problem, weil es das reibungslose Funktionieren technischer oder staatlicher „Prozesse“ behindere. (Ich weise noch einmal auf die oben getroffene haarspalterische Unterscheidung zwischen Individuum und Person hin. Kissler meint das Richtige, doch er ist missverständlich. Viele werden dies lesen und sich denken, der Individualist sei die richtige Alternative zum Kollektivisten. Doch das ist nicht wahr. Der Individualist ist eine moderne Erfindung und hat mehr zum Entstehen des heutigen Kollektivismus beigetragen als jeder andere historische Charakter. Was den Individualisten fehlt ist die Rückbindung des Einzelnen an die schützenden und stützenden Gemeinschaften von Familie, Gemeinde, Heimat, Vaterland und Kirche, diese konzentrischen Kreise der charakterlichen Ausbildung.) Der Staat soll alles richten und richtet über den Menschen.Das Leben wird zum fortwährenden Tribunal. (Hier sieht man wieder die Vergötterung des Staates. Nicht mehr Gott ist der Richter, sondern der Staat.) Das freiwillige Geben hingegen, die konkrete Hilfe von Aug‘ zu Aug‘ schärfte Jesus seinen Jüngern ein. (In der katholischen Soziallehre ist Solidarität immer freiwillig. Solidarität hat nichts mit staatlicher Zwangsgewalt zu tun. Wenn man jemanden zwingt, dem Armen zu geben, dann übt er keine Solidarität, sondern bestenfalls Gehorsam gegen die legitime staatliche Autorität.)
Der Samariter beugte sich herab und wurde so zum Nächsten. Wäre er ein Deutscher unserer Tage, er hielte eine mitleidige Rede und gäbe dem Überfallenen den Ratschlag, sich doch an das nächste Staatskrankenhaus zu wenden. Auf dem Weg dorthin aber wäre er verblutet. (Aber er hätte wenigstens eine Krankenversicherung gehabt…!)

Alexander Kissler zerlegt den Mythos von der angeblichen Kompatibilität moderner Vorstellungen von „sozialer Gerechtigkeit“ mit der christlichen Soziallehre wie gewohnt gründlich und überzeugend. Das bedeutet nun nicht, dass jegliches staatliches Sozialsystem grundsätzlich abzulehnen wäre. Aber es bedeutet, dass die Moralkeule von Links nicht funktioniert. Man ist kein schlechter Christ, wenn man gegen mehr staatliche Einmischung im Sozialsystem ist.

Einen Schwachpunkt hat Kisslers Darstellung allerdings: Sie lobt immer wieder das Individuum als Alternative zum staatlichen Kollektiv. Im Laufe des Artikels wies ich immer wieder auf den Unterschied zwischen dem Menschen als Individuum und dem Menschen als Person hin. Spaemann macht diese Unterschiede an sehr vielen Stellen seiner Schriften sehr deutlich. Die Person ist immer schon Teil einer Gemeinschaft, in der sie ihnen bestimmten eigenen Platz hat. Die Person hat Wurzeln in der Vergangenheit, Bindungen in der Gegenwart und einen Platz in der Erinnerung seiner Nachkommen in der Zukunft. Der Mensch ist als Person Teil einer Gemeinschaft, die kein Kollektiv ist. Ein Kollektiv zeichnet sich durch die Anonymität seiner Mitglieder und ihre Austauschbarkeit aus. Da kein Mensch ganz allein durch die Welt geht, der Individualist aber die Bindungen der Person als „Fesseln“ abzustreifen wünscht, wird er Teil eines Kollektivs, das keine Gemeinschaft mehr ist.

Kissler meint vermutlich dasselbe wie ich, doch in seinem Beitrag kommt der Eindruck an, als ob der Individualist mit seinem kapitalistischen Markt die gewünschte Alternative zum Kollektivisten sei. In Wirklichkeit sind Individualismus und Kollektivismus nur scheinbar Gegensätze – sie bedingen einander. Der Individualist ist Teil eines Kollektivs und ein Kollektiv besteht aus unterdrückten, ins System eingezwängten Individualisten.

Frei ist der Mensch allein als Person, das heißt als Ebenbild Gottes in einer Gemeinschaft mit anderen Personen.

Dávila über Demokratie, Individualismus und Moderne

Zu den Werten und Folgen von Demokratie und Revolution:

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

Das demokratische Programm wird in drei Etappen eingelöst: die liberale Etappe, welche die bürgerliche Gesellschaft begründet, deren Wesen uns die Sozialisten vermitteln; die egalitäre Etappe, die die sowjetische Gesellschaft begründet und über deren Wesen wir von der Neuen Linken erfahren; die brüderliche Etappe, deren Vorspiel die Drogensüchtigen liefern, die in kollektiven Haufen kopulieren.

Zum Verhältnis des modernen Menschen zur Freiheit:

Dem modernen Menschen ist es gleichgültig, in seinem Leben keine Freiheit zu finden, wenn er sie in den Reden jener verherrlicht findet, die ihn unterdrücken.

Zum modernen Individualismus:

Der doktrinäre Individualismus stellt keine Gefahr dar, weil er Individuen schafft, sondern weil er sie abschafft.

Das Produkt des doktrinären Individualismus des 19. Jahrhunderts ist der Massen-Mensch des 20.

Was ist die Moderne?

Was sind die zentralen Entwicklungslinien der politischen und gesellschaftflichen Moderne? Der Auffassung dieses faszinierenden (und meines Erachtens überzeugenden) Artikels folgend ist es die Zentralisierung politischer und gesellschaftlicher Macht in der Hand des Staates, mit der die Zerschlagung aller vermittelnden Institutionen zwischen Individuum und Staat einhergeht. Das derzeit aktuellste Opfer ist die natürliche Familie, aber auch die steht nicht erst seit 1968 unter Druck.

Nur einige kurze Auszüge aus dem Artikel: (Der ganze Artikel ist lesenswert, und, da er einen zusammenhängenden Gedankengang präsentiert, können einige kurze Auszüge ihm nicht gerecht werden)

  A.D. Lindsay, in The Modern Democratic State, wrote:

„It was perhaps equally important that the existence and prestige of the Church prevented society from being totalitarian, prevented the omnicompetent state, and preserved liberty in the only way that liberty can be preserved, by maintaining in society an organization which could stand up against the state.“ (…)

But as the Modern Ages progressed (and that use of „progress“ is itself an innovation of the Modern Ages) kings became monarchs (i.e., ruling alone), then absolute monarchs.  But to become absolute they had to break the other pole of society: the Church was divided and nationalized as „established churches“ whose bishops were appointed by the throne.(…)
[T]he powers of the State steadily increased.  Sometimes overtly, as in totalitarian regimes; sometime covertly, as in bureaucratic welfare states.  Fittingly, Bismarck’s Germany – a curious amalgam of autocracy and democracy – was a wellspring for much of it.  Once-private matters were brought under state control: esp. and most crucially those two pillars of the Family: marriage of the parents and education of the children.  (…)
One consequence of State-run education was that the graduates lined the roads and cheered themselves hoarse when the armies of Our Nation-State marched off to the Mutual Suicide Pact of 1914. (…)

Gutting all the other institutions that once stood between the Man and his State meant that Man stood alone against the State.  This might seem that things had at last boiled down to the bare essentials: it would be Libertarianism or Socialism.  No more Mr. In-Between.  But Man vs. the State is like Bambi vs. Godzilla.  The smart money is on the lizard.  The apotheosis of the Modern Ages is the totalization of the State, in either its hard or soft version. 

Tocqueville thought  that democratic tyranny would be „more extensive and more mild; it would degrade men without tormenting them.“

After having thus successively taken each member of the community in its powerful grasp, and fashioned them at will, the supreme power then extends its arm over the whole community. It covers the surface of society with a net-work of small complicated rules, minute and uniform, through which the most original minds and the most energetic characters cannot penetrate, to rise above the crowd. The will of man is not shattered, but softened, bent, and guided: men are seldom forced by it to act, but they are constantly restrained from acting. (…)

SFnally speaking, What Next?  (…) Welcome to the re-run of the Late Roman Republic, one of the most curious mixtures of dictatorship and republicanism as the world has ever seen.  A Dictatorial Republic! 

Eine sehr interessante Hypothese. Es ist wohl kaum zu bestreiten, dass die Entwicklung tatsächlich in diese Richtung geht. Mit zunehmender technischer Fertigkeit vermag der Mensch nicht nur die Natur, sondern auch seine Mitmenschen zu beherrschen. Die Frage ist eigentlich nur noch, ob der Mensch am Ende wirklich fähig ist, ein solches System der total zentralisierten Gesellschaft aufrecht zu erhalten, oder ob es unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrechen wird.

Ist der Mensch in der Lage, durch weitere technische Fortschritte, eine amoralische, weltweite Zentralgesellschaft nach oben beschriebenem Typus durchzusetzen? Eine Gesellschaft, in der alle materiell wohlhabend, aber spirituell arm sind? Wir sind auf dem Weg. Im Moment kracht und knarrt es im Gebälk dieser entstehenden Gesellschaftsordnung. Werden die Balken halten, oder wird unser modernes Projekt enden wie sein Zwilling, der zutiefst moderne Turmbau zu Babel?

Ich komme immer mehr zu der Einsicht, dass die wirkliche Gefahr nicht im Scheitern des gesellschaftlichen Projekts der Moderne (Zentralisierung, Konzentration auf materiellen Wohlstand, die Zwillingsbrüder Individualismus und Kollektivismus…) besteht, sondern in seinem Gelingen.

Darüber werde ich in Zukunft noch mehr schreiben. Für quasi-apokalyptischen Optimismus und hoffnungsvolle Untergangsprognosen ist der Autor dieses Blogs immer gut.