Von Ideologien ist heute nicht mehr viel die Rede. Alle politischen Parteien verkaufen sich als technische Problemlöser ohne feste Grundüberzeugungen, wir leben in einer Zeit der Macher, die eben nicht viel übrig haben für rigide Theoriegebäude, wie sie von überzeugten Liberalen und Sozialisten vertreten werden. Zumindest ist das die Selbstdarstellung der Politiker und Medienleute. Es geht mehr um Sachverstand als um Grundsätze. Politik will sich heute mehr denn je „wissenschaftlich“ geben und die daraus erwachsende Verschränkung des politischen, medialen und universitären Raums zu einer einheitlichen „Expertokratie“ wird eher als Fortschritt denn als Problem gesehen.
Doch schon der Durchschnittsbürger, der sich wenig mit Politik beschäftigt und nicht viel über die fachlichen Fragen weiß, mit denen sie sich heute herumschlägt, ahnt dunkel etwas davon, dass es um den Sachverstand der Politiker und ihrer weithin unbekannten Vordenker und Hintermänner nicht allzu gut bestellt ist. So erkennt eine große Mehrheit der Deutschen intuitiv die Phrasenhaftigkeit und geistige Leere, die hinter dem großen Expertenkult steckt. Verantwortung für große Grundsatzentscheidungen wird abwechselnd auf die Meinung der Experten oder auf unmittelbaren Sachzwang abgeschoben. Sachverstand wird ersetzt durch den Anschein desselben.
Ist diese Intuition des einfachen Bürgers falsch? Gibt es inzwischen wirklich eine sachverständige Elite, welche die Geschicke des Staates und der Gesellschaft besser zu lenken versteht, als die einfachen Bürger? Wenn unter Berufung auf das Urteil der Ökonomen – ob einheillig oder nicht – die weitgehende Abtretung nationaler Souveränität und sogar des hart von den Königen und Kaisern erkämpften Budgetrechts an eine weder demokratisch noch anderweitig legitimierte kleine Gruppe von Menschen gerechtfertigt wird, dann liegt dieser Schluss nahe. Ebenso wenn unter Berufung auf das Urteil der Pädagogen und Kinderpsychologen immer mehr Eingriffe in das elterliche Erziehungsrecht vorgenommen werden, um etwa „Kinder aus bildungsfernen Schichten“ vor dem drohenden Unheil materieller und geistiger Rückständigkeiten zu bewahren. Den größten Sieg des Expertenkultes finden wir jedoch bei der Debatte um den sogenannten Klimawandel. Ein internationales Wissenschaftlergremium, das International Panel on Climate Change (IPCC), spricht unter Berufung auf eine Vielzahl von Klimaforschern von einer gefährlichen Erwärmung des Klimas auf der Erde. Und unter Berufung auf das Urteil der Experten soll nach dem Willen der Befürworter dieser Entwicklungen eine radikale Reform der Weltwirtschaft geschehen, durch die die Gefahr für das Weltklima so weit wie möglich minimiert werde.
Diese drei Beispiele mögen genügen, doch viele weitere ließen sich anführen. In jedem Falle wird unter Berufung auf den überlegenen Sachverstand der Experten eine Entdemokratisierung angestrebt. Man handelt schließlich aufgrund von Sachzwängen und ist ausgestattet mit wissenschaftlich bewiesenen Vorstellungen.
Lassen wir die eindeutige Tatsache, dass es in der Naturwissenschaft gar keine „Beweise“ geben kann, sondern nur Wahrscheinlichkeiten, und dass deshalb jede Theorie falsifizierbar sein muss, damit sie überhaupt als eine naturwissenschaftliche Theorie gelten darf, einmal beiseite und konzentrieren uns nur auf die verwandte Frage, ob eine solche Expertenherrschaft wirklich einen Schritt in die richtige Richtung darstellt. Dies ist der Fall, wenn der Experte wirklich über einen einschlägigen größeren Sachverstand verfügt. Ist der Experte wirklich einer, der es besser weiß, dann wäre es nur vulgärer Antiintellektualismus, begehrte man gegen seine weisen Worte und Empfehlungen auf. Doch weiß „es“ der Experte in der heutigen politischen Diskussion wirklich besser?
Die naheliegende Antwort ist: Es kommt auf das Thema und den Experten an. Manche wissen wirklich bescheid, andere nicht, und in manchen Fragen weiß der Experte mehr, nämlich wenn es um sein Fachgebiet geht, und in anderen wiederum womöglich nicht. Diese Antwort ist natürlich nicht falsch. Aber sie ist auch nicht vollständig. Denn wenn wir spezifisch nach „politischen“ Diskussionen fragen, dann müssen wir hinzufügen, worin denn die Natur spezifisch politischer Diskussionen besteht.
Um die Frage nach der Rechtfertigung von Politik unter Berufung auf Experten und Sachzwänge beantworten zu können, ist daher eine Antwort auf die Frage nach der Natur des politischen Diskurses notwendig. Was ist überhaupt Politik? Die Natur einer Sache läßt sich aus ihrem Zweck erkennen. Wofür ist also Politik da? Dem Leser fallen hier sicherlich ziemlich viele Aufgaben ein: Landesverteidigung, Rechtssprechung, je nach politischer Ausrichtung auch die Bereitstellung von Schulen oder allgemein wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen. Doch das sind nur nachgeordnete Zwecke der Politik. Sie rechtfertigen sich wieder durch innerpolitische Argumente. Auch sie sind wieder „für etwas da“, haben einen Zweck. Bereitstellung von Landesverteidigung und einer verlässlichen Rechtssprechung sind einzelne Aufgaben des Staates, aber nicht der Zweck des Staates. Sie sind die Mittel und Wege, durch die Staaten ihren eigentlichen Zweck zu erfüllen versuchen. Manche dieser Mittel und Wege sind unstrittig, wie die Landesverteidigung, andere sind strittig, wie bestimmte sozialpolitische Maßnahmen, aber sie alle werden von ihren Befürwortern gerechtfertigt unter Berufung auf etwas, das in der Regel „Gemeinwohl“ genannt wird. Dieser abstrakte Begriff ist von vielen politischen Theoretikern und Praktikern bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden, so dass er heute einen negativen Beiklang besitzt. Was ist nicht alles im Namen des Gemeinwohls gerechtfertigt worden! Es scheint, als ob die Gemeinschaft ohne Gemeinwohl besser dran wäre. Doch der Missbrauch einer Sache schließt nicht den korrekten Gebrauch aus. Wir sollten nicht „das Kind mit dem Bade“ ausschütten.
Gemeinwohl bezieht sich auf das (irdische) Wohl der Gemeinschaft. In der christlich geprägten Tradition des Westens gab es immer schon eine klare Unterscheidung zwischen dem Staat, dessen Zweck ein rein Diesseitiger ist, und der Kirche, welche auch und vor allem für das Heil der Seelen verantwortlich ist. Natürlich spielt die Sorge um das Heil der Seelen in mancher Frage – nämlich in Glaube und Sittenlehre – in weltliche Angelegenheiten herein, und umgekehrt sind die weltlichen Dinge nicht unbedeutend für das Seelenheil der Menschen, so dass diese Trennung keine strikte und absolute sein kann. Sprechen wir im politischen Sinne von Gemeinwohl, so kann nur das irdische Wohl der Menschen, der Individuen und ihrer Familien gemeint sein. Doch etwas gereicht einem Menschen zum Wohl, wenn es gut für ihn ist. Die Frage nach dem Guten, und zwar dem Guten in einem spezifisch ethischen Sinne, kommt über das Gemeinwohl unweigerlich in die Politik. Denn es reicht für das Gemeinwohl eben nicht, wenn etwas nur „gut für mich“ oder „gut für dich“ ist – das ist purer Egoismus. Ebenso ist es nicht ausreichend, wenn etwas „gut für die Mehrheit“ ist, denn es kann aus der Sicht der Mehrheit durchaus gut sein, andere Menschen auszurotten oder ihnen das Leben schwerer als nötig zu machen. Und dass etwas „gut für alle“ sein könnte, dass also alle Menschen einer Gesellschaft eine bestimmte Handlung zugleich als für sie selbst gut einstufen könnten, ist vollkommen utopisch. Wir benötigen also für die Frage nach dem Gemeinwohl eine Begrifflichkeit des „objektiv Guten“ – dessen, was nicht für irgendjemanden oder irgendetwas gut ist, sondern gut als Solches, oder gut an sich. Etwas also, dass für den Menschen gut ist, insofern er nicht irgendetwas anderes ist, sondern eben ein Mensch. Diesen Begriff des Guten nennen wir aber einen „ethischen“ Begriff.
Dies schließt freilich nicht aus, dass im Gemeinwohl auch einige nichtethische Zusammenhänge ihre Rolle und ihren angemessenen Platz haben könnten. Aber ohne einen Begriff vom moralisch Guten können wir das Gemeinwohl nicht definieren. Ohne Moral kein Gemeinwohl, und ohne Gemeinwohl keine Politik. Moral ist die Voraussetzung des Gemeinwohls und Gemeinwohl ist der Zweck der Politik. Daraus folgt streng logisch: Ohne Moral ist Politik zwecklos. Moral ist entscheidender Bestandteil der Politik. Politik befasst sich mit der Verwirklichung des moralisch Guten im menschlichen Zusammenleben nach irdischem Maß.
Nun zeichnet sich aber die Moral gerade dadurch aus, dass es in ihr keine Experten gibt, die sich diesen Expertenstatus durch irgendein intellektuelles Wissen erworben hätten. Kein Diplom und kein Abschluss macht einen Menschen zu einem besseren Menschen, sondern höchstens zu einem gebildeteren Menschen, was etwas ganz anderes ist, wie uns spätestens die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte gelehrt haben müsste. Der Experte ist derjenige, der den Gegenstand besser kennt als der Nicht-Experte. Der einzige Experte in der Moral ist also der tugendhafte moralische Mensch, dem das moralische Gesetz zur zweiten Natur geworden ist. So ein Mensch dürfte selten genug sein, und er ist an Universitäten gewiss nicht häufiger als woanders.
In der Moral können alle Menschen mitreden, weil jedem Menschen das moralische Gesetz ins Herz geschrieben ist, und jeder Mensch gleichermaßen dazu fähig ist, den Antreiben des Gewissens zu folgen oder sie im Laufe der Jahre immer schwächer wetrden zu lassen, bis die Stimme des Gewissens letztlich von dem wilden Kreischen der niederen Gelüste und Antriebe übertönt und damit unhörbar geworden ist. Alle Menschen sind ihren Fähigkeiten und Anlagen nach gleichermaßen moralfähig. Kurz können wir sagen: Der Mensch ist seiner Natur nach moralfähig.
Der Professor und der Bauer mögen unterschiedliches Vokabular verwenden, wenn sie über Moral sprechen. Der Ethiker mag ein scharfes philosophisches Verständnis diverser ethischer Ansätze entwickelt haben, das dem Bauern vollkommen fehlt. Aber wenn der Ethiker die Tötung der Unschuldigen rechtfertigt, und der Bauer sagt, „man tut das nicht“, dann ist der Bauer der ethische Experte und der Ethiker der Dumme.
Wenn es aber in der Moral keine Experten gibt, die sich durch formale Qualifikationen auszeichnen, dann gilt das auch für das Gemeinwohl, das der moralischen Fundierung bedarf, wenn es nicht zu einem reinen Kampf um den größtmöglichen selbstbezogenen Vorteil werden soll, bei dem die Stärkeren immer gewinnen. Doch wenn das Gemeinwohl ebenfalls keine diplombewehrten Experten kennt, dann gilt dasselbe auch für die spezifisch politischen Fragen.
Natürlich weiß der Ökonom wahrscheinlich mehr über Ökonomie als der Bauer. Er kann uns aber nur sagen, zu welchen Folgen bestimmte Handlungen seiner Theorie nach führen werden. Im Idealfall, wenn er wirklich bescheid weiß, dann werden diese Prognosen auch eintreffen. Davon sind wir natürlich weit entfernt. Doch selbst unter Annahme absoluten Expertenwissens wäre der Ökonom keine Hilfe bei der Frage nach dem Ziel.
Vielleicht könnte der perfekte Klimaforscher ausrechnen, dass „x“ Emissionen zu einem Temperaturanstieg von „y“ führen. Doch ob wir bereit sind, diesen Temperaturanstieg hinzunehmen, ob wir ihn als etwas Gutes sehen, und die negativen Folgen zu lindern versuchen, oder ob wir ihn als etwas Schlechtes sehen, und die guten Folgen als eher geringfügig betrachten, das ist keine Frage der Klimaforschung, sondern eine der Politik. Denn es ist die Frage nach dem Ziel, die Frage danach, was dem Gemeinwohl am besten dient, und damit letztlich eine moralische Frage.
Die Expertokratie ist daher ein Irrweg. Experten, die sich durch den einen oder anderen Abschluss auszeichnen, und mit genug Diplomen wedeln können, um als Alleinverantwortliche für die Abholzung der Regenwälder zu erscheinen, wissen vielleicht in ihrem Fachgebiet viel, doch sagt dies nicht das Geringste über den Zustand ihres Gewissens aus.
Kein Bildungszertifikat kann jemals so viel Weisheit vermitteln wie eine dieser zeitlosen Banalitäten, die sich schon die Bauern vor tausenden von Jahren erzählt haben.
Eine andere Folge dieser ganzen Überlegung ist aber, dass die Experten, wenn sie ihre politischen Meinungen gar nicht aus ihrem Expertenstatus schöpfen können, an ihre politischen Positionen ebenso herankommen wie die Nicht-Experten. Vielleicht können sie sie geschliffener formulieren, doch das konnten die Sophisten auch. Vielleicht sind die Sophisten sogar heute mal wieder wortgewandter als die Nachfolger des Sokrates, was womöglich daran liegt, dass die Nachfolger des Sokrates sich weithin den Sophisten angeschlossen haben. Die Experten haben kein privilegiertes Wissen in Fragen von Moral und Politik – daher sind diejenigen, die sich auf Experten für ihre politischen und moralischen Ansichten berufen, entweder einfach einer Täuschung erlegen, oder maskieren durch die Berufung auf die angeblich wissensbedingte Autorität der Experten nur eine bestimmte politisch-moralische Ideologie.
Da die Expertenlüge eigentlich sehr leicht zu durchschauen ist, zumal die Experten ja nicht einmal in ihren Fachgebieten wirklich fähig sind – ein Beispiel: welcher Ökonom hat die Krise von 2008 vorhergesagt? – trifft die Hypothese der Maskierung einer politischen Ideologie vermutlich auf die meisten Personen des öffentlichen Lebens zu, die sich, quer durch alle Parteien und Medien, Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, auf die scheinbare Autorität der Experten berufen.
In diesem Sinne erscheint gerade die repetitive Vehemenz, mit der immer wieder vorgetragen wird, es handle sich nicht um ideologische Ziele, sondern um Sachzwänge, die etwa die Zentralisierung politischer und wirtschaftlicher Macht in den Händen der Wenigen, die sogenannte „Globalisierung“, die Reaktion auf den Klimawandel, die Abtretung nationalstaatlicher Budgetsouveränität und dergleichen mehr erforderlich machten, als indirekter Beweis für die ideologische Absicht, die hinter den gegenteiligen Beteuerungen steckt.
Man sagt uns immer wieder, es gebe keine Alternative. Ist das wirklich so? Gibt es keine Alternative? Die generell vorgeschlagenen Alternativen sind die bekannten politischen Ideologien, die längst alle gescheitert sind, und deren Scheitern ihre Anhänger der Selbstdarstellung folgend auf wundersame Weise zu nüchternen, sachlichen, technokratische „Lösungen“ vorschlagenden Experten gemacht hat. Doch ansonsten? Wenn wir keine Liberalisten, Sozialisten oder Nationalisten sein wollen, wenn wir weder dem Markt noch dem Staat über den Weg trauen, bleibt uns denn dann etwas anderes übrig, als uns auf den puren Sachverstand der Experten zu verlassen, selbst wenn er nur ein schöner Schein ist, hinter dem sich eine seltsame Mischung von Egozentrismus und politischer Ideologie verbirgt?
Und ob. Denn der gemeinsame Punkt aller gescheiterten Ideologien und der heutigen Schein-Expertokratie ist eben dieser: Dass sie sich alle in der einen oder anderen Weise auf die zeitlosen Banalitäten der Moral berufen, von denen beiläufig schon die Rede war. Dass sie alle aber ein bestimmtes an sich richtiges moralisches Prinzip herausgreifen und es so weit unter Ausschluss aller anderen Prinzipien radikalisieren, bis es über den Status der Richtigkeit hinaus zum Irrtum aufgestiegen ist.
Dem gegenüber steht einsam die katholische Soziallehre, die peinlich die Übersteigerung eines einzelnen moralischen Prinzips meidet, indem sie das ganze moralische Gesetz berücksichtigt. Hier haben wir ein Ideal, das, Chesterton zufolge, nicht versucht und für schlecht befunden, sondern für schwer befunden, und deswegen nicht versucht worden ist. Wäre es nicht eine gute Idee, dieser Idee eine Chance zu geben, nachdem alle anderen Ideen heillos gescheitert sind, und bevor wir uns in den radikalen Nihilismus stürzen, der die Folge des Scheiterns sinngebender Ideologien zu sein pflegt?