Rechtfertigung und Schuld

In einer kleinen, freundschaftlichen Kommentarschlacht zu meinem Artikel über Notstand und die Piusbrüder geht es um die Frage des Lügens. Die Kirche lehrt, dass Lügen zur Gruppe der intrinsisch falschen Handlungen, also nur aufgrund der moralischen Qualität der Handlung bereits (unabhängig von den Umständen) immer falschen Handlungen gehört. Wer lügt, verstößt gegen das moralische Gesetz. Egal, welche Umstände hinzutreten mögen, der Verstoß gegen das moralische Gesetz bleibt bestehen.

Die logische Schlussfolgerung daraus, die auch sowohl von mir als auch von den kritischen Kommentatoren gezogen wird, ist nun, dass die Lüge niemals moralisch gerechtfertigt werden kann. Lüge ist immer moralisches Unrecht.

Die weitergehende Frage nach der Zumessung der Schuld ist einer abschließenden Beurteilung durch den Menschen entzogen. Sie kommt Gott zu, und wir sind gerufen nicht zu richten – wir können auch nie alle Faktoren kennen oder angemessen berücksichtigen. Denn bei der Schuld liegen die Dinge nicht so einfach. Man kann objektiv eine Sünde begehen, ohne dafür Schuld zu tragen (etwa durch eine Unwissenheit, die man nicht hätte vermeiden können). Ebenso spielen auch die Umstände bei der Frage nach Schuld immer, auch bei intrinsisch falschen Handlungen, in die Bewertung der Handlung mit hinein. Ob man jemanden im Affekt töte, weil man ihn auf frischer Tat mit der Ehefrau ertappt habe, oder ihn kaltblütig ermordet, um seine Millionen zu erben, das macht für die Rechtfertigung keinen Unterschied. Intrinsisch falsche Handlungen werden nicht durch Umstände gerechtfertigt. Aber für die Schuld macht es einen womöglich sehr großen Unterschied.

Ebenso liegen die Dinge bei der Lüge auch. Lügen ist intrinsisch falsch, kann also nicht gerechtfertigt sein. Doch wenn man jemanden belügt, um sich zu bereichern, oder um das Ansehen einer dritten Person zu beschädigen, oder einfach aus Boshaftigkeit, dann ist sein Verhalten in höherem Maße schuldhaft, als wenn man eine Sekretärin anweist, zu behaupten, man sei gerade in einer Besprechung, obwohl man nur eine kleine Pause machen und dabei ungestört sein will. Solche Lügen sind immer noch nicht gerechtfertigt, aber die Schuldhaftigkeit ist sehr gering.

Wenn nun gelogen wird, um das Leben eines anderen Menschen zu retten – wenn man etwa einem selbstmordgefährdeten Menschen eine schreckliche Hiobsbotschaft vorenthält – dann schwindet sie Schuld noch weiter. Man handelt immer noch ungerechtfertigt – die Lüge ist immer noch intrinsisch falsch – aber dieses Verhalten überhaupt noch als schuldhafte Sünde zu bezeichnen, erscheint mir übertrieben.

In dem diskutierten Beispiel mit dem Juden und dem SS-Mann, der den Juden sucht, und dem ich nun antworten muss, ist die moralisch beste Antwort in jedem Fall eine wahre Antwort, die aber den SS-Mann von dem Versteck des Juden weglenkt. „Woher soll ich wissen, wo er ist?“ wurde als Möglichkeit vorgeschlagen. Doch was ist, wenn der SS-Mann nachhakt? Wenn er mich direkt fragt, ob ich den Juden bei mir verstecke und nur „ja“ oder „nein“ als Antwort akzeptiert? Man kann auch dann jede Antwort verweigern, nicht lügen, und dafür selbst ins KZ gehen. Das wäre heldenhafte Tugend und eines Heiligen würdig. Wenn der Jude aber in meinem Haus versteckt ist, dann stirbt er trotz aller heldenhaften Tugend trotzdem, weil man ihn bei der Hausdurchsuchung, die ich durch mein Schweigen erst recht provoziert haben dürfte, natürlich findet.

Wenn ich nun lüge, um den Juden zu schützen, dann handle ich immer noch intrinsisch falsch. Wenn ich nun diese heroische Tugend nicht besitze, oder selbst ihre Ausübung dem Juden nicht helfen würde, und ich deswegen zu einer solchen Lüge greife, dann ist auch das intrinsisch falsch und objektiv eine Sünde. Es ist nicht gerechtfertigt. Aber wer könnte behaupten, der „Lügner“ trüge in diesem Fall eine wahrnehmbare moralische Schuld? Sein Handeln wäre sicherlich nicht optimal und nicht perfekt gewesen, aber verglichen mit der moralischen Infamie und Verkommenheit, den Juden seinen Mördern freundlich und hilfsbereit lächelnd auszuliefern, um „schuldlos“ zu bleiben, wäre die Handlung des „Lügners“ bei weitem vorzuziehen.

Auch wenn sie weder ideal noch gerechtfertigt ist, kann ich in ihr praktisch keine moralische Schuld wahrnehmen.