Getreu der Aufforderung des Chefökumenisten der katholischen Kirche, Kardinal Koch, möchte ich hier genau diese Frage stellen: Wo stehen wir, die wir uns traditionelle Katholiken nennen? Der Kontext dieser eigenartigen Frage ist natürlich das Konzil (was sonst?). Kardinal Koch wünscht sich die totale Anerkennung. In einem Interview sagt er zur Verbindlichkeit des Konzils:
„Das Zweite Vatikanum hat vier große Konstitutionen erlassen, zudem neun Dekrete und drei Erklärungen. Rein formal kann man natürlich einen Unterschied zwischen diesen drei Gattungen machen. Allerdings stellt sich dann insofern ein Problem, als das Konzil von Trient (1545-1563) nur Dekrete erlassen hat und keine Konstitutionen. Und man wird hier sicher nicht von einem Konzil minderen Grades reden wollen. Also: Rein formal kann man Unterschiede finden, aber man kann kaum Unterschiede in der Verbindlichkeit in inhaltlicher Hinsicht machen. Das Ökumenismus-Dekret beispielsweise hat seine dogmatischen Grundlagen in der Kirchen-Konstitution. (…) Dass Konzile auch irren können, ist allerdings eine Behauptung, die auf Martin Luther zurückgeht. Von daher müssen sich die Traditionalisten schon fragen, wo sie denn eigentlich stehen.„
Kardinal Koch vetritt also die Haltung, dass jeder Katholik das Konzil zur Gänze in all seinen Texten vorbehaltlos und vollständig annehmen muss, dass es nicht statthaft ist, manchen Konzilstexten einen höheren Grad an Verbindlichkeit zuzumessen, sondern dass alle Texte gleichermaßen „verbindlich“ sind. Zudem unterstellt er Konzilskritikern eine quasilutheranische Gesinnung. Ob der geschätzte Kardinal mit seinen Freunden aus den „getrennten Gemeinschaften“ auch so diplomatisch umspringt?
Der Kardinal fordert „Traditionalisten“, verstanden als Personen, die das Konzil kritisch sehen, und daher an „vorkonziliaren“ Positionen festhalten, dazu auf, zu überdenken, wo sie eigentlich stehen. Die Frage lautet eigentlich: Seid ihr Traditionalisten überhaupt katholisch?
Man merke: Die feste Überzeugung von der unbezweifelbaren Richtigkeit aller Konzilsaussagen – alles soll gleichermaßen verbindlich sein – wird hier zum Markstein der Glaubenstreue bzw. Orthodoxie. Wer das anders sieht, ist eine Art zweiter Luther. Dies ist ein geradezu lehrbuchmäßiges Beispiel für die Stilisierung eines Pastoralkonzils zum „Superdogma“. Das Konzil selbst hat natürlich, ebenso wie auch die nachkonziliaren Päpste, immer wieder festgestellt, dass gar keine neuen Dogmen definiert worden sind.
Nun, der Kardinal möchte, dass die Traditionalisten sich fragen, wo sie denn eigentlich stehen. Sind sie überhaupt Katholiken? Ich kann natürlich nicht für alle Traditionalisten sprechen, aber soweit ich weiß, sehen die allermeisten sich durchaus als Katholiken. Ich zumindest habe meine oftmals eingestandenen Schwierigkeiten mit dem Konzil, und wäre niemandem böse, wenn es einfach in der Versenkung verschwände, doch ich halte mich durchaus für katholisch.
Vielleicht irre ich mich, und ich bin in Wahrheit ein Schüler Luthers, wie der Kardinal zu insinuieren wünscht. Ich bin – im Gegensatz zum Größten Konzil Aller Zeiten – schließlich nicht unfehlbar. Vielleicht sind die Traditionalisten in Wahrheit gar keine Katholiken, sondern Protestanten. Immerhin würden sie dann in Zukunft vom Ökumenefanclub hofiert, statt verketzert.
Doch die Frage des Kardinals ist ernstzunehmen. Wo stehen die Traditionalisten? Wie gesagt, ich kann nicht für alle Traditionalisten sprechen, sondern nur für mich selbst: Aber hier ist meine Antwort:
Der Zweck des Konzils war erklärtermaßen, den Glauben pastoral zeitgemäß darzustellen, um die Kirche zu stärken, und den Glauben zu verbreiten. Hat das Konzil seinen Zweck erfüllt? Ist die Kirche heute stärker als 1965?
Nur jeder zehnte Katholik besucht regelmäßig die Messe. Wenn er die Messe besucht, dann erlebt er meist eine krampfhaft kreative Gemeindefeier mit Empfang eines nicht besonders schmackhaften Brotplättchens im Gänsemarsch am Ende der Messe. Das ist sein subjektiver Eindruck. Wenn er das Glück hat, noch eine Messe in seiner Gemeinde vorzufinden, und keine „Wort-Gottes-Feier“ mit freundlicher Unterstützung der lokalen Häretikerinnen aus dem Gemeinderat.
90% der Katholiken sind kirchenfern. Die allermeisten nach 1965 geborenen Katholiken haben nicht die geringste Ahnung von ihrem Glauben. Weder ihre Eltern noch die Gemeinden legen besonderen Wert auf die Ausbildung der jungen Menschen in ihrem Glauben. Nur lustig muss es sein, und fröhlich und modern, alles andere ist egal. Zunehmend werden Kinder christlicher Eltern gar nicht mehr getauft. Wenn kann es wundern?
Wenn ein Nichtgläubiger einmal den Weg zur Kirche findet, und einen Priester nach den Inhalten des Glaubens fragt, dann hat er sehr gute Chancen, dass man ihm erklärt, es gehe darum, lieb und nett zu sein, weil alles andere sowieso nur später hinzugedichtet worden sei. Fragt er einen Theologieprofessor, so sind seine Chancen in dieser Hinsicht noch besser. Fragt er einen einfachen katholischen Laien, so wird er vermutlich gar keine zusammenhängende Antwort erhalten. Von den zentralen Gehalten des christlichen Glaubens erfährt er so jedenfalls nichts. Er wird nicht wiederkommen. Warum auch?
Katholische Familien unterscheiden sich nicht vom Rest der Gesellschaft. Diesseitiges Streben nach Geld, Prestige und materiellem Besitz überstrahlt das Streben nach Heiligkeit, sofern letzteres überhaupt noch eine Rolle spielt. Die wenigen nicht verhüteten, nicht abgetriebenen Kinder sind wie in der Mehrheitsgesellschaft eher im Weg, weil sie Mutter und Vater an ihrer Selbstverwirklichung hindern. Katholische Verbände fordern die Einweisung möglichst aller Kinder ab dem ersten Lebensjahr in staatlich finanzierte Verwahranstalten. Sie haben keine Skrupel, mit Abtreibungslobbyisten gemeinsame Sache zu machen. Die meisten Bischöfe und Priester schweigen dazu vornehm. Man fürchtet sich vor dem, was sie sagen würden.
Katholische Familien leben den Glauben nicht. Das Tischgebet ist kaum noch verbreitet, und ähnliches gilt für das gemeinsame Gebet überhaupt. Die Existenz Gottes ist zweifelhaft, außer als gelegentlich gebrauchte Redensart, die Heilsnotwendigkeit der Kirche unbekannt oder Gegenstand von Spott. Nach einigen Jahren ist die Chance nicht schlecht, dass die katholische Familie auseinanderbricht, weil die Ehepartner sich auseinandergelebt haben, und einer der beiden oder beide jüngeres Fleisch erblickt haben.
In der Ökumene geht es vor allem um den Ausverkauf katholischer Substanz zwecks Vorspiegelung real inexistenter Einheit. Das Ziel der Bekehrung der Irrgläubigen zum Kirche Gottes ist praktisch aufgegeben worden, und jeder, der die Juden auffordert, sich zu Jesus Christus zu bekehren, wird als Antisemit angefeindet, bloß weil ihm das Seelenheil des jüdischen Volkes am Herzen liegt.
Das Konzil hat den Glauben in einer schweren Zeit nicht gestärkt, sondern durch seine Schwammigkeit und seine Schwurbelprosa selbst unter Annahme vollständiger Kontinuität mit der Glaubensüberlieferung massiv geschwächt. Der Konzilskaiser hat keine Kleider.
Die Kirche steht heute vor einem Scherbenhaufen. Ganz Gallien befindet sich in einer tiefen Glaubenskrise. Ganz Gallien? Nein, in einigen kleinen verstreuten Dörfern sieht es deutlich besser aus. Was zeichnet diese kleinen gallischen Dörfer aus, die sich alleingelassen durch die Mainstreamkirche mit bescheidenen Mitteln durch die Glaubenskrise kämpfen? Ist es extreme Treue zu der unerschöpflichen Weisheit des Konzils? Ist es die feste Überzeugung, dass man alle Beschlüsse des Konzils unterschiedslos als richtig und wunderbar annehmen muss?
Oder ist es nicht vielmehr das Festhalten an der traditionellen katholischen Religion, ihrer Frömmigkeit, ihrer dogmatischen Klarheit, ihrer überlieferten Theologie, und nicht zuletzt, ihrer theologisch unmissverständlichen traditionellen Messe, bei der niemand den Eindruck gewinnen kann, er wohnte einer lutheranischen Gedächtnisfeier bei?
Schwere, inhaltliche Kritik oder absolute Anhänglichkeit an jede Konzilsformulierung als verbindliches Glaubensgut: Welche Haltung zum Konzil bringt die richtigen, katholischen Früchte? Kardinal Koch mag dies nach seinen eigenen Kriterien beurteilen.
Doch ich kann das Konzil nur an seinen Früchten messen. Und wenn ich sehe, wie zwei Zwillinge von zwei Bäumen essen, und der eine Zwilling danach schwer erkrankt, während der andere weitgehend gesund bleibt, dann weiß ich, dass die Früchte des einen Baumes vergiftet waren.
Und also esse ich nicht von diesem Baum.
Ich halte an dem überlieferten Baum des wahren Glaubens fest. Von dem weiß ich wenigstens, dass er unbedenklich, verträglich und gesund ist.
Und wenn die Laborergebnisse irgendwann einmal vorliegen, wenn der Konzilsbaum genau untersucht worden ist, und man genau herausgefunden hat, von welchen Früchten des Konzilsbaums man unbedenklich essen kann, dann werde ich von diesen Früchten essen. Bis dahin halte ich an dem Glauben fest, der 1961 wahr war, in der sicheren Zuversicht, dass er heute nicht plötzlich falsch sein kann.
Beantwortet das – zumindest was meinen Fall betrifft – Ihre Frage, Herr Kardinal?