Vom modernen Staat und seinem Charakter (Teil 3 von 3)

Die Aufhebung des Grundkonflikts

Wir hätten einen Kollektivismus, der sich ständig individualistischer Denkstrukturen bedient, und aus einem starken Individualismus motiviert wäre, jedoch letztlich über individuelle Leichen ginge, um das den Nutzen des Kollektivs zu maximieren. Ebenso hätten wir einen Individualismus, dem es genuin darum ginge, dass jedes Individuum, jeder einzelne Mensch, ein gutes, d.h. subjektiv nützliches, erfülltes Leben führte, der sich aber zur Erreichung dieser Ziele letztlich totalitär-kollektivistischer Mittel bediente, um wissenschaftlich fundiert eine Gesellschaft zu „organisieren“, in der jedes Individuum „seinen Traum leben“ könnte.

Das erklärt auch die seltsame Verquickung individueller und kollektiver Elemente in allen modernen politischen Ideologien. Auch dem kollektivistischen Kommunisten geht es eigentlich um den Nutzen der individuellen Menschen. Auch dem liberalen Individualisten bleibt nichts anderes übrig, als zur subjektiven Nutzenmaximierung des Individuums zu letztlich totalitär-kollektivistischen Mitteln der Umerziehung und der Volksbeglückung zu greifen.

Die heutige Gesellschaft, die paradigmatisch eine Gesellschaft der Nutzenmaximierung ist, zerstört daher wahre Gemeinschaft ebenso wie wahre Individualität. Die Individualisten erkennen nur die Erfüllung individueller Bedürfnisse und Präferenzen als legitimes Gesellschaftsziel an, und um möglichst alle Präferenzen zu befriedigen, wird ein umfassendes, jede Individualität erstickendes Programm organisierter Beglückung vertreten – faktisch ist Liberalismus inzwischen dazu verkommen. Selbst unter der Herrschaft des Individualismus hat das Individuum keine Chance.

Letztlich verschwimmen in einer solchen Gesellschaft Kollektivismus und Individualismus ineinander, und aus der einstmals lebhaften Konfliktschärfe des Gegensatzes wird zunehmend, in der Spätphase ihres Lebenszyklus, eine blutleere Funktionärskaste, deren „Parteien“ sich kaum voneinander unterscheiden, was sie nicht davon abhält, um Posten und Funktionen im organisierten, kollektiven Zwangsbeglückungsstaat des radikalen Individualismus zu streiten. Mehr und mehr wird politischer Diskurs dann eine Show, ein Beispiel für Entertainment, und wahre Entscheidungen werden direkt von den Experten getroffen, von den Technokraten, die sich nicht dem alljährlichen Wahlzirkus stellen müssen.

Entdemokratisierung ist die logische Folge und Verfallserscheinung dieses Gesellschaftsprojekts.

Organisierte Anarchie

Wenn wir nun einige zentrale Wesensmerkmale und Strukturkennzeichen der nutzenmaximierenden modernen Gesellschaft aufgefunden haben, dann gilt es immer noch, diese auf einen Begriff zu bringen, der ihr Wesen trefflich auszudrücken vermag. Mir scheint dafür vielleicht der Begriff „organisierte Anarchie“ geeignet zu sein, denn einerseits ist der moderne Staat so gründlich und umfassend durchorganisiert, wie keiner vor ihm, andererseits existiert er allein zu dem expliziten Zweck, jeden Menschen von der Herrschaft zu befreien, die ihm einmal Vorschriften darüber machte, was er zu glauben habe, was moralisch und was unmoralisch sei, was ein gutes Leben sei etc.

Der moderne Staat als totaler Staat

Es ist nach dieser Auffassung letztlich die Unterdrückung durch den „wissenschaftlich“ organisierten Volksbeglückungsstaat, durch die der Mensch von Unterdrückung frei werden kann. Nur die Unterwerfung unter diesen Staat kann den Menschen wirklich frei machen. Man erkennt leicht, dass ein solcher Staat faktisch religiöse Funktionen übernommen hat, wie „neutral“ er sich auch immer gerieren mag. Die befreiende Tyrannei, oder die organisierte Anarchie ist notwendig ein totaler Staat. Totalitarismus heißt nicht Faschismus oder Kommunismus, sondern einfach, dass der Staat letztlich die Hoheit über alle Lebensbereiche hat. Und dies wird ihm heute kaum noch ernsthaft bestritten. Es ist daher gerechtfertigt, den modernen Staat als den seinem Wesen nach prinzipiell totalen und sogar totalitären Staat zu kennzeichnen.

Ersatzmessianismus

Nur der moderne Staat kann den Menschen von seiner Unterdrückung durch andere erlösen (und ich wähle dieses Wort mit Bedacht). Der moderne Staat ist letztlich ein Ersatz für die messianischen Hoffnungen des säkularen Ex-Christen des modernen Westens.

Dieser so beschriebene moderne Staat wird aufgrund seines totalen Anspruchs praktisch identisch mit der modernen Gesellschaft. In jeden Bereich reicht der Staat hinein – Wirtschaft, Bildung, Familie, Medien, Unterhaltung etc. Grenzen, gleich ob moralisch, religiös oder praktisch, erkennt er nicht mehr an.

Die große Verfolgung

Aufgrund verbliebener Reste christlicher Zurückhaltung und demokratischer Verantwortlichkeit scheut er sich derzeit noch, alle Grenzen restlos zu überschreiten und alle Dissidenten mittels modernster Technologie zu verfolgen und zu exterminieren (wofür etwa durch Drohnen, Datenspeicherung und Abschaffung des Bargelds bereits heute wichtige Voraussetzungen geschaffen werden).

Andere Geschmacksrichtungen des totalen Staats haben derartige Skrupel nicht gehabt. In seiner kommunistischen und faschistischen Variante hat der totale Staat zu schrecklichen Völkermorden geführt. Die „organisierte Anarchie“ hat dieses Stadium noch nicht erreicht. Dies ist jedoch nur eine Frage des Entwicklungsstadiums – der heutige Staat ist noch nicht so weit. Er hat nicht den Weg der revolutionären Umwälzung gesucht, sondern sich durch stetige Reformen „totalisiert, und dieser Prozess ist noch längst nicht vobei. Der Reformstaat geht langsamer, bedächtiger vor als der Revolutionsstaat, doch das ändert nichts daran, dass sie beide zum gleichen Ziel hin unterwegs sind, oder um die moderne Phrase zu verwenden, dass sie beide zum gleichen Ziel hin fortschreiten.

Für Christen bedeutet dies dasselbe, wie in allen Staaten dieses Typus, angefangen vom dekadenten Römischen Reich mit seinem vergöttlichten Kaiser bis zu den Gulags der Sowjetunion. Der Wind weht aus den Tiefen und die Verfolgung naht. Denn Christen können niemals einen totalen Staat anerkennen und ihm die Art Huldigung erweisen, die er notwendig früher oder später sowohl in formalen Gesten als auch in alltäglichem Verhalten von seinen „befreiten“ Untertanen erwarten muss.

6 Gedanken zu „Vom modernen Staat und seinem Charakter (Teil 3 von 3)

  1. Einerseits gibt das, was Sie schreiben sehr zu denken, andererseits erkenne ich, dass fast alle im Westen sich als Christen deklarieren. Will sich in Ihrer Schrift das Christentum neu positionieren?
    Der Staat und die christlichen Werte liegen nicht weit voneinander…man könnte sogar behaupten, dass der moderne, westlich orientierte Staat (nach eigener Bekundung) der Staat der christlichen Werte ist.
    Ist der totalitäre Gedanke, von dem Sie sprechen, nicht als Keim im Christentum selbst enthalten?

    • Perspektivenlogik,
      Erstens bedeutet Selbstdeklaration noch nicht das Vorliegen des fraglichen Merkmals. („Fast alle“ sind es auch nicht – in Deutschland knapp 60%, Tendenz fallend.)
      Zweitens geht es in meiner Schrift nicht um eine Neupositionierung des Christentums. Dazu wäre ich nicht befugt, und daran bin ich auch nicht interessiert.
      Drittens gibt es noch Relikte christlicher Orientierung und der Säkularismus ist selbstverständlich eine säkularisierte Version des Christentums, doch ein Christentum ohne Christus ist kein echtes Christentum mehr. So wie z.B. ein „Liberaler“ der ständig gegen Freiheit wäre, sich immer noch liberal nennen könnte, es faktisch aber nicht mehr wäre.
      Viertens ist der totalitäre Gedanke nicht im Christentum enthalten. Im Gegenteil, dass der Staat natürliche Grenzen hat, die zu respektieren sind – sowohl in der Form, dass andere Institutionen seine natürliche Sphäre beachten müssen, als auch dass er nicht außerhalb seiner Sphäre agieren darf – geht im Kern bereits auf Augustinus, wenn nicht auf Christus („Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist“) zurück. Dass der Staat eben nicht grenzenlos agieren darf, eben keinen totalen Anspruch stellen darf, ist für das Christentum wesentlich. Das stellt keine Neupositionierung dar.

        • Perspektivenlogik,
          wer besitzt Christus? Letztlich besitzt ihn niemand, wenn er wirklich Gottes Sohn ist. Die katholische Kirche beansprucht allerdings, von ihm gegründet worden zu sein und in ununterbrochener Folge Christus –> Apostel –> Bischöfe bis heute (apostolische Sukzession) zu stehen, so dass sie ihn und seine Lehre authentisch verkündet. Wenn Sie natürlich einen Protestanten fragen, wird der die Sache anders sehen… 😉

  2. Ein gut durchdachter, intelligenter Artikel mit hohem Wirklichkeitsgehalt.
    Sie haben erkannt: Die Wahrheit ist keine Funktion einer demokratischen Mehrheit.
    „…eine Gesellschaft der Nutzenmaximierung ist..“ Das waren/sind allerdings alle menschlichen Gemeinschaften, zu dessen Zweck sie in erster Linie (ausser dem Schutz vor kriegerischen Angriffen.ja gebildet werden. Nur bewirkt die „Mechanisierung“ dieser Nutzenmaximierung einen „unmenschlicheren“ Anschein und hat dadurch den liberalen heuchlerischen Human-Aktivismus ausgeloest. Der aber konzentriert sich leider nur selbstherrlich auf die Symptome, anstatt auf grundlegende Umstrukturierungen. Ich bin ueberzeugter Atheist, wir gehen also verschiedene Wege, scheinen aber das gleiche Ziel zu haben!
    Alles Gute

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