Luther ja – Lefebvre nein!

Jetzt ist es also soweit (lange habe ich es schon erwartet): Der neue Glaubenspräfekt der katholischen Kirche, dessen Anhänglichkeit an das Konzil als Superdogma ja nicht erst seit gestern bekannt ist, hat erklärt, es werde keine weiteren Gespräche mit der Piusbruderschaft geben, weil es keine Kompromisse im Glauben geben könne. Bei kath.net heißt es:

«Wir können den katholischen Glauben nicht den Verhandlungen preisgeben. Da gibt es keine Kompromisse», fügte Müller laut NDR hinzu. Man werde in der Glaubenskongregation in Einheit mit dem Papst nun das weitere Vorgehen beschließen. Müller stellte klar, dass das Zweiten Vatikanische Konzil (1962-1965) nicht im Gegensatz zur gesamtkirchlichen Tradition stehe. «Es gibt keine Ermäßigungen, was den katholischen Glauben angeht, gerade wie er auch vom Zweiten Vatikanischen Konzil gültig formuliert worden ist.»

Was bedeutet das? Es bedeutet, dass Erzbischof Müller das letzte Konzil in allen seinen Aussagen zum Dogma erheben möchte. Die Piusbruderschaft erkennt die ganze Lehre der Kirche bedingungslos und aus Überzeugung an, abgesehen von einigen Aussagen des letzten Konzils und den daraus abgeleiteten Innovationen. Wenn es also unüberbrückbare Differenzen „im Glauben“ gibt, die weitere Gespräche überflüssig machen, dann müssen diese von der Piusbruderschaft abgelehnten Textpassagen des Konzils verbindliche, dogmatische Glaubensaussagen darstellen.

Natürlich hat die Kirche diese strittigen Passagen niemals als dogmatische Lehrsätze festgeschrieben. Im Gegenteil: Das Konzil selbst, und die nachkonziliaren Päpste haben immer daran festgehalten, dass es sich um ein „Pastoralkonzil“ gehandelt habe, das keine neuen Glaubenssätze definiert habe. Seit dem Konzil vertreten die Päpste faktisch eine Hermeneutik der Kontinuität, auch wenn erst Papst Benedikt XVI. diese Formulierung zu wählen begonnen hat. Der Glaube sei nicht fundamental verändert worden. Es bestehe Kontinuität zwischen vorkonziliarer und nachkonziliarer Zeit. Einen Bruch, so hieß es, habe es nicht gegeben.

Nun, wenn es keinen Bruch im Glauben gegeben hat (wie der Erzbischof ja selbst in dem Interview behauptet), dann ist der Glaube von 1962 auch noch der Glaube von 2012. Und damit müsste die Piusbruderschaft, die an dem Glauben von 1962 festhält, auch 2012 noch dem Glauben der Kirche entsprechen. Wenn man vorkonzilare Schriften liest, von Enzykliken bis hin zu Katechismen, dann stellt man immer wieder fest, dass dort nichts anderes steht, als was man heute noch in den Schriften der Piusbrüder lesen kann. Und wenn ein einfacher Katholik wie Konrad Adenauer heute eine Kapelle der Piusbruderschaft aufsuchen könnte, dann würde er die dortige Messe sofort wiedererkennen. Was er über die real existierende „Neue Messe“ sagen würde, möchte ich eigentlich gar nicht wissen. Es bräuchte vermutlich viele Erklärungen, bevor er in ihr den Katholizismus, den er als kleines Kind gelernt hat, wiedererkennen würde.

Machen wir etwas Logik:

1. Es hat beim Konzil keinen Bruch im Glauben gegeben. (Aussage des Papstes zur „Hermeneutik der Kontinuität“)

2. Wenn es keinen Bruch im Glauben gegeben hat, dann ist der Glaube der Kirche vor dem Konzil genauso katholisch wie der Glaube der Kirche nach dem Konzil.

3. (aus 1 und 2) Der Glaube der Kirche vor dem Konzil ist genauso katholisch wie der Glaube der Kirche nach dem Konzil.

4. Die Piusbruderschaft lehrt denselben Glauben, den die Kirche vor dem Konzil gelehrt hat.

5. (Aus 3 und 4) Der Glaube der Piusbruderschaft ist genauso katholisch wie der Glaube der Kirche nach dem Konzil.

Wenn nun also Erzbischof Müller Aussage 5 leugnet, indem er sagt, es seien keine weiteren Gespräche mit der Piusbruderschaft erforderlich, weil es beim Glauben keine Kompromisse geben könne, dann muss er eine der Prämissen (1,2 und 4) leugnen. Denn eine durch einen gültigen logischen Schluss gewonnene Konklusion ist wahr, genau dann, wenn die Prämissen wahr sind. Der obige logische Schluss ist gültig. Also ist er genau dann wahr, wenn die Prämissen wahr sind.

Sind die Prämissen wahr? Dass die Piusbruderschaft denselben Glauben lehrt wie die vorkonziliare Kirche, ist unmittelbar offensichtlich. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man sich mit den Schriften der Piusbruderschaft beschäftigt. Was dort steht, ist nichts anderes, als was die Kirche immer gelehrt hat. Satz 4 ist also wahr.

Die Wahrheit von Satz 2 ergibt sich aus der Bedeutung des Wortes Bruch.

Damit ist noch Prämisse 1 übrig. Der Erzbischof sagt in dem oben zitierten Textabschnitt eindeutig, dass das Konzil in Kontinuität zur gesamtkirchlichen Überlieferung stehe. Wenn sich diese Prämisse aber als wahr erweist, wie der Erzbischof behauptet, so ist auch die Konklusion (Satz 5) wahr. Nur wenn sich die Prämisse als falsch erweist, kann die Konklusion (Satz 5) falsch sein. Doch Erzbischof Müller leugnet Satz 5. Er sagt, Gespräche mit der FSSPX seien sinnlos, weil man keine Kompromisse im Glauben machen könne. Die Piusbrüder haben gesagt, dass sie von ihrer ablehnenden Haltung bestimmter Konzilspassagen nicht abrücken werden. Wenn diese Konzilspassagen dogmatische Glaubenssätze sind, dann machen weitere Gespräche mit der FSSPX wirklich keinen Sinn. Solange sie nicht den ganzen Glauben anerkennen, braucht man nicht unnötig Papier zu füllen und zu schwätzen. Das ist eine wunderbare Einsicht, die den heutigen Kirchenvertretern hinsichtlich der sogenannten Ökumene allzu oft fehlt. Dafür gebührt Erzbischof Müller ein großes Lob.

Doch seine ganze Argumentation, warum man mit der FSSPX nicht weiter zu verhandeln brauche, basiert auf der Prämisse, dass die von der FSSPX abgelehnten Konzilspassagen dogmatische Glaubenssätze seien. Wenn es sich nur um pastorale Aussagen handelt, die für ihre Zeit Gültigkeit besitzen mögen, die aber durchaus nicht zum Glaubensgut im engen Sinne gehören, dann kann man diese Aussagen durchaus ablehnen, und auch offen als falsch kritisieren, ohne sich dadurch eines Defizits im „Glauben“ schuldig zu machen.

Doch für Erzbischof Müller müssen die Piusbrüder alle Aussagen des Konzils anerkennen, um in die volle Gemeinschaft der Kirche zurückkehren zu können. Das Konzil ist für ihn also der zentrale Markstein für die Zugehörigkeit zum katholischen Glauben. Wer das Konzil auch nur in einzelnen Passagen für falsch hält, der gehört nicht dazu, und mit dem braucht man auch gar nicht zu verhandeln, bis er den Irrtum seiner Wege einsehend um Einlass in die Kirche bittet und seinen Irrlehren widersagt.

Damit behandelt er das ganze Konzil als Dogma. Es ist das größte je formulierte Dogma der Kirchengeschichte; das Superdogma eben. Die Mutter aller Dogmen. Ein Dogma, mit dessen Textausgabe man jemanden buchstäblich erschlagen kann. Waren Dogmen früher klar und eindeutig formulierte Lehrsätze, so sind sie heute unübersichtliche Textmassen weitschweifiger, ungelenker, fortschrittsoptimistischer Soziologenprosa.

Damit leugnet er offenbar auch Prämisse 1 (dass es beim Konzil keinen Bruch im Glauben gegeben habe), wie man aus der obigen logischen Analyse entnehmen kann. Der Erzbischof behauptet, es habe keinen Bruch gegeben, doch seine Haltung gegenüber der FSSPX setzt logischerweise die Annahme eines solchen Bruchs voraus.

Wenn man einen einfachen, gläubigen Katholiken von 1950 in eine Zeitmaschine setzen und in die heutige Zeit transportieren könnte, dann wäre er nach dieser Auffassung kein guter Katholik mehr, sondern einer, der den wahren Glauben nicht hat. Er wäre, da der wahre Glaube nach der Lehre der Kirche heilsnotwendig ist, faktisch in der Gefahr des ewigen Todes, sobald der freundliche Erzbischof ihm die neuen Dogmen erklärt hat, und der Zeitreisende damit nicht mehr in unverschuldetem Irrtum verharrt.

Wenn diese Auffassung stimmt, dann gab es auf dem Konzil sehr wohl einen Bruch, und dieser Bruch ging über Äußerlichkeiten und zeitbedingte Erscheinungsformen weit hinaus. Das ist es aber, was die Piusbrüder und Erzbischof Lefebvre immer behauptet haben.

Nun soll also nach dem Willen von Erzbischof Müller nicht mehr katholisch sein, was bis zum Konzil immer katholisch war, obwohl es angeblich keinen Bruch gegeben habe…. Das geht aber nur, wenn die Wahrheit sich ändern kann. Wenn der wahre, ganze Glaube vor dem Konzil heute plötzlich ernsthafte Irrtümer beinhaltet, oder ihm entscheidende Teile fehlen. Eine solche Veränderlichkeit der Wahrheit ist explizit als Modernismus verurteilt worden.

Der offensichtliche Schluss wäre, dass Erzbischof Müller eine modernistische Auffassung von der katholischen Wahrheit hat: sie vermag sich zu ändern, wenn ein Pastoralkonzil das so beschließt. Hier liegt dann auch der Unterschied zur Piusbruderschaft, die eindeutig bekennt, was alle Päpste bis zum Konzil immer bekannt haben: Dass die Wandlung in der Messe eine echte Transsubstantiation ist, dass die Gottesmutter nicht nur symbolisch, sondern tatsächlich Jungfrau ist, dass der wahre Glaube sich nicht ändern kann, usw.

Aber wir sollten nie vergessen, dass die Piusbruderschaft das Superdogma nicht anerkennt und daher eine indiskutable, quasi-häretische Gruppe darstellt, mit der man nicht zu reden braucht, während man eifrig katholische Wahrheiten unter den Tisch kehrt, um sich bei den schismatischen Gefolgsleuten Luthers anzubiedern.

Strukturelle und inhaltliche Kontinuität

Alle Vergleiche hinken. Dies gilt auch und gerade für den folgenden Vergleich zwischen politischem und theologischem „Konservatismus“. Der Vergleich hinkt sogar sehr stark, weil der christliche oder katholische theologische „Konservative“ über einen durch göttliche Offenbarung unhintergehbar zugesagten Schatz von Glaubenswahrheiten verfügt, die nicht mehr Gegenstand der theologischen Debatte sein können. Gerade für den Katholiken sind die fleischliche Auferstehung Christi, die immerwährende Jungfräulichkeit Marias, der Charakter der Messe als Opfer, die Einzigkeit und Heilsnotwendigkeit der Katholischen Kirche usw. nicht verhandelbare Gegenstände politischer oder quasipolitischer Debatten. Sie sind diplomatischen Zugeständnissen, ökumenischen oder interreligiösen Gesten oder opportuner Anpassung an den Zeitgeist schlicht und einfach nicht zugänglich.

Der theologische „Konservative“ vertritt also in seinem Festhalten an der überlieferten Glaubenswahrheit nicht bloß eine prinzipiell bestreitbare, möglicherweise falsche Überzeugung, dass eine bestimmte Sache bewahrenswert sei, sondern die gewisse Sicherheit, dass Gott seine Kirche in Fragen des Glaubens und der Sittenlehre in die Wahrheit und nicht in den Irrtum führen wird.

Politischer Konservatismus mag bis zu einem gewissen Grad Gegenstand individueller Temperamente sein. Mancher neigt vielleicht eher zur Risikobereitschaft und ist bereit, gesellschaftliche Veränderungen auszuprobieren, auch auf die Gefahr hin, dass sie sich als Irrtümer herausstellen und Schaden verursachen könnten. Ein anderer ist eher vorsichtig. Er bewertet die Vermeidung potenziell schädlicher Irrtümer höher als die Möglichkeit eventueller positiver Fortschritte. So unterscheiden sich die Menschen. In der politischen Sphäre kann man daher nicht objektiv sagen, ob in einer gewissen politischen Streitfrage der Konservative oder sein Gegner im Recht ist. In lehramtlich geklärten theologischen Fragen kann der Katholik hingegen genau diese Feststellung treffen. Wer behauptet, Christus sei gar nicht wirklich fleischlich auferstanden mit einem echten, sichtbaren, wenn auch verklärten Leib, sondern bloß in der Hoffnung oder religiösen Erfahrung seiner Anhänger, der leugnet eine sichere Glaubenswahrheit. Er hat nicht nur einfach ein experimentierfreudiges Temperament, oder ist für oder gegen Fortschritt, sondern er leugnet die Grundbasis des christlichen Glaubens.

Eine Person als „politisch konservativ“ einzustufen, gibt Auskunft über diese Person, über ihr Temperament, ihre Haltung zu Tradition und Fortschritt usw. Eine Person als „theologisch konservativ“ einzustufen, heißt einfach nur, dass sie an den sicheren und gewissen Glaubenswahrheiten festhalten will. Man könnte statt „theologisch konservativ“ also auch einfach „orthodox“ oder „katholisch“ sagen, was zugleich prägnanter und aussagekräftiger wäre.

Wenn ich nun diesen zugegeben extrem stark hinkenden Vergleich heranziehen möchte, dann nur, um zwei verschiedene Strömungen innerhalb der heutigen katholischen Kirche konzeptionell voneinander zu trennen, die beide kein kirchliches Dogma leugnen, sich aber dennoch in ihren theologischen Positionen deutlich voneinander unterscheiden. Zu diesem Zweck möchte ich die gestern bereits dargestellte Unterscheidung von „Strukturkonservatismus“ und „Wertkonservatismus“ heranziehen. Der Strukturkonservative hält an den gesellschaftlichen Strukturen fest. Er lehnt eine Veränderung ab, weil sie das Skelett der Gesellschaft, ihre Grundstruktur angreift. Der Strukturkonservative ist meist von vorsichtigem Temperament, schätzt Experimente überhaupt nicht, und fühlt sich wohl, wenn alles beim Alten bleibt. Der Wertkonservative hat ein ganz bestimmtes, inhaltlich klar definiertes Idealbild einer Gesellschaft im Auge, von dem er glaubt, dass bestimmte „Fortschritte“ oder „Reformen“ ihm entgegenstehen und deshalb verhindert werden müssen. Der Wertkonservative, sofern er wertkonservativ ist, lehnt Veränderungen gar nicht per se ab. Er lehnt Reform „x“ nicht ab, weil sie eine Veränderung der gesellschaftlich-politischen Struktur ist, sondern weil die Reform inhaltlich in die falsche Richtung geht.

Natürlich sind viele Strukturkonservative auch wertkonservativ (und umgekehrt), doch konzeptionell liegt hier eine klare Differenz vor.

Diese politische Unterscheidung möchte ich analog – wenn auch mit größter Vorsicht und Vorläufigkeit – auf die „kirchenpolitische“ Lage übertragen. Es gibt Kräfte in der Kirche (die üblichen Reformkatholiken), die weder struktur- noch wertkonservativ sind. Sie beharren nicht auf den überlieferten kirchlichen Strukturen, und auch nicht auf den Glaubensinhalten. Dann gibt es Kirchenmänner wie den Erzbischof Müller, die durchaus an den überlieferten, hierarchischen Strukturen festhalten möchten, die etwa das Frauenpriestertum, die diversen Laienaufstände usw. immer eindeutig und unmissverständlich abgelehnt haben, und die auch die Struktur der katholischen Theologie beibehalten möchten. Sie bleiben bei den traditionellen theologischen Begriffen. Sie wollen keine neue Theologie schaffen, die den offenen Bruch mit der traditionellen, katholischen Theologie vollzieht. Kurzum: Sie sind für Kontinuität der Strukturen in jeder Hinsicht.

Und doch verändern sie subtil die Bedeutung überlieferter Glaubenswahrheiten. Wenn Erzbischof Müller die Jungfräulichkeit, die Maria auch heute noch hat, so stark spiritualisiert, dass man darin nur noch mir sehr viel Wohlwollen ein Bekenntnis zur auch physischen Jungfräulichkeit lesen kann, dann haben wir genau das, was ich mit dem hinkenden Vergleich zum „Strukturkonservatismus“ beleuchten möchte. Ebenso, wenn derselbe Erzbischof erklärt, man hätte den auferstanden Jesus nicht mit einer Filmkamera aufnehmen können. Hier wird der Leib des Auferstandenen so stark spiritualisiert, dass er nicht mehr materiell genug wäre, dass diese Materie auch objektiv, unabhängig von den „Erfahrungen“ gläubiger Menschen wahrnehmbar wäre. Dies schließt zwar die traditionelle Deutung nicht explizit aus – bricht also nicht mit der Struktur der katholischen Überlieferung – verschiebt aber die Inhalte so stark, dass im Grunde eine andere Theologie dabei herauskommt. Ein fleischlicher, verklärter Leib, den der zweifelnde Thomas anfassen, und der Fisch essen konnte, ist eine ganz andere Sache, als ein spiritualisierter Leibrest, der nur in den Erfahrungen der Gläubigen überhaupt wahrnehmbar ist, selbst wenn beide Deutungen formal in Einklang mit der traditionellen Doktrin zu bringen sein sollten.

Hier haben wir den Unterschied zwischen strukturkonservativem und wertkonservativem Denken auch in der katholischen Theologie. Beide Arten von „Konservativen“ sind formal orthodox – sie leugnen formal keine Glaubenswahrheit. Und doch ist die Haltung, die etwa hier zum Ausdruck kommt grundsätzlich anders als die, die Erzbischof Müller zum Ausdruck bringt.

Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen einer Hermeneutik der strukturellen Kontinuität („Kontinuität des einen Subjekts Kirche“, wie es der Heilige Vater ausdrückt), und einer Hermeneutik der inhaltlichen Kontinuität, in der nicht nur die gleiche Kirche mit den gleichen Strukturen ihrer göttlichen Verfassung die gleichen Glaubenssätze lehrt, sondern in der sie auch noch inhaltlich dasselbe mit diesen Glaubenssätzen meint.

Beide lehnen die „Hermeneutik des Bruches“ ab, doch das heißt noch nicht, dass sie sich einig in ihrem Verständnis von Kontinuität wären. Dies ist weder bei dem ewigen Zankapfel des letzten Konzils der Fall, noch bei allen anderen Fragen des Glaubens und der Sittenlehre. Ein Verfechter der Hermeneutik der strukturellen Kontinuität beharrt auf der Kirche wie sie immer war, doch er ist bis zu einem gewissen Grad bereit, die Bedeutung der Strukturen (auch sprachlicher Strukturen, wie Glaubenssätzen) neu zu fassen oder umzuinterpretieren. Er geht dabei nicht so weit wie der typische Modernist, der gleich das ganze Dogma umstülpt und einfach eine politisch korrekte Floskel über Nächstenliebe daraus macht, aber er feilt durchaus an den Inhalten auf eine Weise, dass die Glaubenswahrheit nachher einen anderen Bedeutungshorizont hat, selbst wenn die Worte unverändert bleiben und kein inhaltlicher Aspekt direkt geleugnet wird.

Ich möchte abschließend noch zweierlei betonen: Erstens, dass es sich hier um eine konzeptionelle Unterscheidung handelt. Verschiedene Katholiken, wie etwa der Heilige Vater, Erzbischof Müller, Bischof Fellay, Catocon und viele andere, werden sicherlich von beiden Arten der Kontinuität etwas in sich haben. Gewisse inhaltliche Verschiebungen wird selbst der schärfste real existierende Verfechter einer umfassenden, inhaltlichen Kontinuität nicht ablehnen, solange sie fernab jeder festgelegten Glaubenswahrheit liegen, und auch der Anhänger einer „strukturellen Kontinuität“ im oben angedeuteten Sinne ist nicht zu jeder Umdeutung der Strukturen bereit, weil er weiß, dass ein solches Unterfangen in häretischem Modernismus enden kann, wenn man sich nicht vorsieht. Insofern ist der reale Unterschied geringer als der idealtypische. Ich glaube jedoch, dass diese beiden Idealtypen in der realen katholischen Welt vielfache Anwendung finden können.

Zweitens, dass ich mir nicht anmaße, die eine oder die andere Seite außerhalb des orthodoxen, glaubenstreuen Katholizismus zu verorten. Solche Feststellungen zu treffen ist nicht meine Sache, und darüber bin ich auch sehr glücklich. Ich versuche hier nur, mittels eines hinkenden, doch meines Erachtens trotzdem nützlichen Vergleichs aus der politischen Sphäre, einige Eindrücke zu vermitteln, denen ich mich bei der Betrachtung der katholischen Landschaft nicht verwehren kann. Der Zweck dieses Essays ist daher Analyse, nicht Urteil.

Hermeneutik der Kontinuität – Ein praktisches Beispiel

Das Konzil ist für viele, wenn auch nicht für alle, ein ewiger Zankapfel.

Manche lehnen das Konzil mit Stumpf und Stiel ab, weil es modernistisch sei. Solche Ideen finden sich auf dem „Williamson-Flügel“ der Piusbruderschaft nicht selten. Ihnen ist entgegenzuhalten, dass 95% des Konzils nichts anderes tun, als bereits bekannte Lehren zu wiederholen, und sei es vielleicht auch in weniger prägnanter Form, so bleiben es doch dieselben Lehren. Warum sollten diese Lehren auf einmal modernistisch sein, bloß weil sie von anderen Textabschnitten umgeben sind, die ziemlich modernistisch klingen?

Andere lehnen das Konzil ebenso radikal mit Stumpf und Stiel ab, weil es ihnen nicht weit genug gegangen ist. Diese Gruppe hatte lange Zeit die praktische Interpretationshoheit über das Konzil und rechtfertigte ihr Unwesen mit dem „Geist“ des Konzils, der kein anderer war, als der Geist von „68“. Sie werten jede Kritik am Geist von 68 als Kritik am Konzil. Auch sie verunmöglichen eine rationale Rezeption der Texte.

Zwischen diesen Extrempositionen bewegt sich der Heilige Vater mit seiner Hermeneutik der Reform in Kontinuität mit der ganzen Tradition der Kirche. Ob sie tatsächlich für alle Konzilstexte vollkommen ausreichend ist, bedarf weiterer theologischer Klärung. Für die meisten Texte passt sie jedoch unzweifelhaft.

Father Z präsentiert auf seinem sehr lesenswerten Blog nunmehr einen Artikel, in dem er eine sehr traditionelle Interpretation der Texte aus Sacrosanctum Concilium über den Gregorianischen Choral vorlegt. Er demonstriert, dass es die Absicht des Konzils war, der Gregorianik einen absolut zentralen Platz in der Liturgie zuzuweisen. In der Praxis ist er aber fast völlig verdrängt worden. Father Z kommt zu der Schlussfolgerung:

„When we read SC 116 “latinly”, it says that, barring something out of the ordinary, Gregorian chant is the first type of sacred music that is to be used in the Roman liturgy, because the Church claims and acknolwedges and declares Gregorian chant to have the “first place” among all legitimate types of sacred music. Just as when a father recognized a first-born son that son became the principle heir, to be preferred over even all other legitimate children, so to the Church places Gregorian chant in the first place over all other types of sacred liturgical music. At the same time, there are rare occasions when something other than Gregorian chant can be used.“

[Wenn wir SC 116 „lateinisch“ lesen, besagt es, dass Gregorianischer Choral, von außergewöhnlichen Umständen abgesehen, die erste Art von heiliger Musik ist, die in der römischen Liturgie zu benutzen ist, weil die Kirche behauptet und anerkennt und erklärt, dass der Gregorianische Choral den „ersten Rang“ unter allen legitimen Arten heiliger Musik hat. Wenn der Vater einen erstgeborenen Sohn anerkannte, bekam dieser Sohn der vornehmliche Erbe, der selbst allen anderen legitimen Kindern vorzuziehen ist. Ebenso setzt die Kirche den Gregorianischen Choral an die erste Stelle, vor alle anderen Arten heiliger liturgischer Musik. Gleichzeitig gibt es seltene Gelegenheiten, zu denen etwas anderes als der Gregorianische Choral benutzt werden kann.]

Ein beeindruckendes Beispiel für die Tatsache, dass die Hermeneutik der Kontinuität das Konzil in ein Licht zu rücken vermag, in dem es bislang zu selten betrachtet worden ist.

Die Sammlung der Konzilstexte in einer Vielzahl von Sprachen findet sich übrigens auf der Vatikanseite, damit wir alle lesen können, was das Konzil wirklich gesagt hat.

Konzilskritik: Die Kleider des Kaisers

Es gibt gute Gründe für eine genaue theologische Untersuchung der Texte des 2. Vatikanischen Konzils hinsichtlich der Vereinbarkeit des Konzils mit dem früheren Lehramt der Kirche. Ebenso gut, wenn nicht noch besser, sind die Gründe für die Annahme, dass sich in letzter Konsequenz ein hermeneutischer Schlüssel wird finden lassen, der die Interpretation des Konzils in Übereinstimmung mit dem traditionellen Lehramt ermöglicht. Ich bin sehr zuversichtlich, dass das Projekt einer „Hermeneutik der Kontinuität“ erfolgreich sein wird, auch wenn ich mit manchen Aussagen des Konzils zum Ökumenismus, zur Religionsfreiheit usw. meine Schwierigkeiten habe.

Ich fürchte allerdings, dass diese Debatte, so wichtig sie auch ist, nicht den Kern des Problems der aktuellen Kirchenkrise trifft. Zunächst einmal sind die Konzilstexte mehrdeutig. Das Konzil hat zumindest in der Hinsicht mit der Tradition gebrochen, dass es eine ganz andere Sprache für seine Verlautbarungen verwendete. Nicht dogmatisch, sondern pastoral wollte es sein. Es wollte den katholischen Glauben in einer neuen, dem modernen Menschen zugänglichen Sprache darstellen.

Und damit ist das Konzil in jedem Fall gescheitert. Selbst wenn jeder einzelne Satz der Konzilsdokumente mit dem traditionellen Lehramt vereinbar ist, dann ist er das nur aufgrund einer komplexen theologischen Interpretation, die sich dem Laien überhaupt nicht erschließt. Gerade das, was das Konzil selbst erreichen wollte, hat es nicht geschafft. Es hat den Glauben dem modernen Menschen nicht näherbringen können.

Das Konzil ist noch in einem anderen Sinn gescheitert. Wir sollen sie an ihren Früchten messen, doch welches Bild gibt die nachkonziliare Ära in dieser Hinsicht ab?

Der Glaube ist höchstens noch lauwarm, er wird an vielen theologischen Fakultäten kaum noch gelehrt, von den Kanzeln (sofern noch vorhanden) meist nur in weichgespülter Wohlfühlform gepredigt, und so gut wie gar nicht mehr weitergegeben. Die Katechese ist seit fünfzig Jahren bestenfalls ausgefallen, schlimmstenfalls zur Immunisierung gegen den Glauben verwendet worden.

Kirchen werden geschlossen, die Priesterseminare sind leer, die katholische Religion überall im Rückwärtsgang. Ihre öffentlichen Vertreter sind handzahm und wehren sich nicht mehr gegen die Säkularisierung der ganzen Gesellschaft. Einige von ihnen treiben sie sogar aktiv voran. Gläubige, traditionelle Priester werden von ihren Bischöfen im Stich gelassen oder gar aggressiv bekämpft.

Die reale Gemeindepraxis hat kaum oder gar nichts mit der katholischen Religion zu tun. Die Messe ist vielerorts zu einem Ort bloß menschlicher Kreativität herabgewürdigt worden. Die Schätze vieler Jahrhunderte sind zerstört worden. Schöne Altäre wurden durch Holztische ersetzt, die Bilderstürmer haben die Kirchen erobert und zu heiligen Lagerhallen umfunktioniert. Es wundert nicht, dass in solchen Kirchen keine ehrfürchtigen Messen zelebriert und kein wahrer Glaube gelehrt wird.

Mancherorts haben ohnehin die Laien längst die Leitung der Kirche übernommen und die Priester sind von ihnen ersetzt oder an den Rand gedrängt worden. Der Opfercharakter der Messe und die Realpräsenz Christi sind weitgehend vergessen oder verdrängt worden. Mehr als zwei Drittel der Katholiken glauben nicht mehr an die Realpräsenz. Sehr viele Priester auch nicht, wenn man sieht, wie sie mit der konsekrierten Hostie umgehen. Ohne das Opfer ist auch der Opferpriester überflüssig. Es wundert nicht, dass die Seminare leer sind.

Die meisten Katholiken gehen gar nicht mehr zur Messe. Warum auch? Man hat ihnen beigebracht, dass das ein nettes sonntägliches Frühstück ist, bei dem man an Jesus denkt und der Kreativität anderer Leute zuschaut. Das alles kann man auch ohne Kirche haben. Sie wissen kaum etwas über ihren Glauben und ihr Lebenswandel ist nicht von den Protestanten und Atheisten zu unterscheiden. Katholiken haben kaum noch Kinder, sie stellen ihre persönliche Selbstverwirklichung über ihren Glauben und ihre Familie. Sie passen sich an das alltägliche säkulare Leben an statt Zeichen des Widerspruchs zu sein. Die Abtreibungskliniken und Scheidungsgerichte sind voll von ihnen. Sie leben, als ob sie gar nicht mehr katholisch sein wollten. Sie sind in der Masse des kollektiven Ameisenhaufens längst aufgegangen. Viele von ihnen lassen ihre wenigen Kinder auch folgerichtig gar nicht mehr taufen. Sie können ja später selbst entscheiden und sind nicht ohnehin alle Religionen gleich?

Man könnte die Aufzählung beliebig fortführen. Eins steht jedenfalls fest: Wenn wir die letzten 50 Jahre kirchlichen Handelns an ihren Früchten messen wollen, dann müssen wir ehrlich und offen sprechen. Sich vornehm um die Wahrheit herumzudrücken bringt nichts. Die Früchte sind eine einzige Katastrophe. Man kann jetzt lange darüber streiten, ob nur der „Geist des Konzils“ dafür verantwortlich ist, oder das Konzil selbst. Doch der Streit ist, so interessant er auch ist, letztlich müßig. Wenn wir das Konzil an seinen Früchten messen wollen, dann ist es ein Fehlschlag gewesen. Es hat die Säkularisierung, sogar die Apostasie nicht aufhalten können. Und das gilt auch dann, wenn man das Konzil ja ganz anders hätte interpretieren können; das Konzil hat einer Bruchhermeneutik in der Realität keinen Widerstand entgegengesetzt.

Der Kaiser hat gar keine Kleider an. Das Konzil ist eine einzige riesige pastorale Katastrophe gewesen, ganz gleich, ob es theologische Irrtümer gelehrt hat, oder alles in Einheit mit der Tradition zu lesen ist. Es hat schlicht und einfach nicht funktioniert. Man muss Fehler erkennen und erkannte Fehler berichtigen. Alles andere wäre bloß Sturheit.

Doch wenn das Konzil eine einzige pastorale Katastrophe war, was sollen wir dann tun? Nun, wir sehen, wo es die pastoralen Katastrophen nicht gegeben hat. Nämlich dort, wo man sich durch das Konzil gar nicht hat irritieren lassen. Dort, in den traditionellen Gruppen, sind Nachwuchs, Eifer, Glaube und Tradition erhalten geblieben. Dort sind die Kirchen nicht leer, die Gläubigen nicht gleichgültig, und die Priesterseminare voll. Dort wird der katholische Glaube gelebt und er ist quicklebendig. Er ist lebendig, und er wächst.

Wir sollen sie an ihren Früchten erkennen, und das gilt auch für den Baum des Konzils. Seine Früchte sind giftig gewesen. Es mag sein, dass es auch hätte anders kommen können, wenn man von Anfang an auf breiter Front die richtige Hermeneutik verwendet hätte. Man hat es aber nicht getan. Und der Grund dafür ist einfach. Man hat es nicht getan, weil man es nicht wollte. Die Konzilsväter sind 1965 heimgefahren und haben das umgesetzt, was sie für richtig hielten, und das toleriert, was sie nicht für falsch hielten. Was sie getan haben ist das, was das Konzil aus ihrer Sicht tun sollte. Sie haben nicht auf dem Konzil „Kontinuität“ gefordert und dann daheim den Bruch versucht, so als ob es da einen plötzlichen Sinneswandel gegeben hätte. Sie haben den Bruch schon auf dem Konzil beabsichtigt. Der Heilige Geist hat den theologischen Bruch wohl verhindert – den pastoralen Bruch jedoch nicht.

Die Früchte des Konzils haben wir heute vor uns und sie sind giftig. Der Kaiser hat keine Kleider, er ist nackt. Heißt das, dass wir das Konzil wieder abschaffen müssen? Nein, natürlich nicht. Aber es heißt, dass die Neuerungen des Konzils nicht zum Maßstab des Glaubens werden dürfen. Es heißt, dass derjenige, der die Neuerungen des Konzils ablehnt, nicht weniger katholisch ist, als ihr Befürworter, und dass er in voller Einheit mit der Kirche sein kann, selbst wenn er besagte Neuerungen zugleich scharf kritisiert. Es heißt, dass das Konzil keine zukunftsweisende Reform war, sondern höchstens ein pastoraler Fehltritt, aus dem man jetzt das beste machen muss. Es heißt, dass das Ziel der anfangs erwähnten theologischen Diskussionen nur sein kann, eine Interpretation des Konzils anhand der Tradition zu erarbeiten und nicht die Tradition anhand des Konzils zu interpretieren.

Und schließlich heißt es, dass wir allen dankbar sein sollten, die nach bestem Wissen versucht haben, den traditionellen Glauben der Kirche unter großem persönlichem Einsatz durch den Sturm der Nachkonzilszeit getragen haben, und so das Reservoir gesunder Lehre und Praxis bewahrt haben, aus dem man für die jetzt notwendige wahre Erneuerung schöpfen kann.

Hinweis zur Religionsfreiheit

Ein ziemlich verworrenes und umstrittenes Thema in der innerkirchlichen Debatte vor, während und nach dem II. Vaticanum ist die Religionsfreiheit. Da mir derzeit die nötige Ruhe fehlt, um mich an diesem Blog eingehender mit dieser, kürzlich auch im hiesigen Kommentarbereich aufgetauchten, Fragestellung zu beschäftigen, äußere ich mich lieber gar nicht als ohne Sachverstand. In der Zwischenzeit möchte ich den geneigten Leser jedoch auf einen sehr interessanten wissenschaftlichen Aufsatz in englischer Sprache zu eben diesem Thema aufmerksam machen („What is the Catholic doctrine of religious liberty?“), der hier eingesehen werden kann.

Thomas Pink, Professor für Philosophie am King’s College in London, beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern es eine Kontinuität hinsichtlich des Verhältnisses zwischen individuellen Gläubigen und Ungläubigen, der Kirche und dem Staat, besonders was ein angebliches oder tatsächliches Recht auf Religionsfreiheit betrifft, zwischen der Zeit vor und nach dem Konzil von Trient, dem Lehramt der Päpste im 19. Jahrhundert, und dem letzten Konzil gibt. Wie man schon an der Fragestellung ablesen kann, ordnet Pink die Debatte zwischen „Traditionalisten“ und „Progressiven“ in einen wesentlich breiteren  Rahmen ein als man dies üblicherweise in der Debatte wahrnimmt.

Ein interessanter wissenschaftlicher Aufsatz, den ich durchaus empfehlen möchte, da er mir auf einem hohen theologischen und argumentativen Niveau zu stehen scheint, ob man den Schlussfolgerungen nun zustimmen möchte oder nicht. Ohne der Lektüre vorgreifen zu wollen, möchte ich hervorheben, dass seine Deutung von Dignitatis Humanae auf eine etwas gewagt erscheinende Weise im Ergebnis zu mit der „Hermeneutik der Kontinuität“ konsistenten Ergebnissen führt. Ich finde die Erklärung allerdings zu weit hergeholt und daher nicht allzu überzeugend. Doch dies möge der Leser selbst beurteilen – interessant ist sie allemal.

Roberto de Mattei im Interview

Ein ausführliches Interview mit dem Autor des kürzlich hier auf Kreuzfährten thematisierten Geschichtswerks „Das Zweite Vatikanische Konzil – eine bislang ungeschriebene Geschichte“ kann man derzeit auf kath.net nachlesen. Hier folgen nun einige Auszüge mit kurzen Kommentaren von Catocon in rot.

Was waren die vornehmlichen Ergebnisse des Konzils unter einem theologischen und doktrinellen Aspekt sowie hinsichtlich des Glaubenslebens? Wie haben sich Stil und Art der christlichen Verkündigung geändert?

de Mattei: Als Johannes XXIII. das II. Vatikanische Konzil eröffnete, erklärte er, dass dieses ein pastorales und kein dogmatisches Konzil sei (was der Heilige Vater genauso sieht, wie schon die anderen Päpste seit dem Konzil), da es sich zur Aufgabe mache, mit einer neuen pastoralen Sprache die beständige Lehre der katholischen Kirche vorzulegen. Die Erfordernis, eine neue Sprache für die Welt zu finden, entsprang – wie es nicht anders sein konnte – dem Verlangen, den Glauben zu verbreiten. Das Ziel also war praktischer Natur, und ausgehend von den praktischen Ergebnissen muss darüber geurteilt werden, ob die Mittel zur Erlangung des Ziels wirksam und angemessen waren. Die Tatsachen sagen uns leider, dass das Konzil nicht die Ergebnisse erreichte, die es sich gesetzt hatte. So entsteht das sogenannte hermeneutische Problem: etwas „ist schief gegangen“.(Dies ist eine wichtige Einsicht. Ob es nun objektiv einen theologischen und dogmatischen Bruch mit der Tradition der Kirche gegeben hat oder nicht – wozu sich de Mattei als Historiker nicht äußert – man muss das Konzil an seinen Früchten erkennen, und diese Früchte waren nun einmal größtenteils ungenießbar. Etwas ist schief gegangen. Das ist eine historische und keine theologisch-dogmatische Aussage.)
(…)

Ich gehöre zu dieser [römischen, Anm. von Catocon] Schule, und ich denke, dass die Veränderung des Stils und der Art der christlichen Verkündigung im Sinne einer Anpassung an die Kultur des 20. Jahrhunderts der Kirche nicht gut getan hat. Sie hätte vielmehr die Welt „herausfordern“ müssen, ohne Ängste und Komplexe.(Es ist ein abgegriffener und viel mißbrauchter Satz – aber das ist, was Jesus tun würde. Er hat die Zeit, in der er auf Erden wandelte, auch nicht besänftigt, sondern herausgefordert. Und er ist dafür umgebracht worden, wie es auch uns geschehen kann, wenn wir unsere Zeit richtig herausfordern. Das ist sozusagen „Berufsrisiko“ eines jeden Christen.)

Seit Papst Benedikt XVI. in seiner Weihnachtsansprache an die Römische Kurie am 22. Dezember 2005 vom Gegensatz zwischen einer „Hermeneutik der Reform“ und einer „Hermeneutik der Diskontinuität oder des Bruchs“ gesprochen hat, bestimmen diese Begriffe die aktuelle Diskussion um das Konzil als Ereignis und in seinen Folgen. Ein Problem für die „Hermeneutik der Reform“ besteht in der Unterscheidung zwischen dem „Ereignis“ des Konzils, zusammen mit seiner Vor- und Nachgeschichte, und der „Produktion“ des Konzils.

Kann es eine Dichotomie zwischen den Lehren des Konzils und den sie erzeugenden Fakten geben? Was sind die Folgen, wenn eine derartige Trennung nicht statthaft ist?

de Mattei: Es ist statthaft, die beiden Aspekte des Konzils, das heißt die doktrinellen Dokumente und das Ereignis, voneinander zu unterscheiden. Sie dürfen jedoch nicht getrennt werden. Zu ersteren äußern sich die Theologen, zum zweiten die Historiker. (Hier ist wieder die Unterscheidung von vorhin…) Das letzte Ziel ist dasselbe, doch die Methode der Forschung ist im Fall der Geschichte auf die Wahrheit der Fakten, im Fall der Theologie auf die Glaubenswahrheiten anzuwenden. Der Glaube muss die Schritte des Historikers erleuchten, vor allem wenn die Kirche Gegenstand seiner Forschung ist, doch die Fragen, die der Historiker stellen muss, und die Antworten, die er zu geben hat, sind weder die des Theologen noch des Hirten. Der Anspruch, eine geschichtliche Arbeit mit zu anderen Disziplinen gehörenden Kategorien zu bewerten, ist also nicht allein ein epistemologischer Irrtum, sondern auf moralischer Ebene auch ein vorschnelles Urteil als Folge eines ideologischen Apriori.

Mir wurde vorgeworfen, die Dokumente des Konzils zu vernachlässigen oder sie mit dem Schlüssel der Diskontinuität mit der Tradition der Kirche zu interpretieren. (Jetzt nimmt er Stellung zu dem oben bereits erwähnten Vorwurf:) Doch die Interpretation der Konzilsdokumente kommt den Theologen und dem Lehramt der Kirche zu. Was ich rekonstruiere, ist der historische Kontext, in dem jene Dokumente entstanden sind. Und ich sage, dass der historische Kontext, das Ereignis, keinen geringeren Einfluss in der Geschichte der Kirche hatte als das Lehramt des Konzils und das nachkonziliare Lehramt: der Kontext setzte sich selbst als paralleles Lehramt und beeinflusste so die Ereignisse.

Ich bin überzeugt, dass auf einer geschichtlichen Ebene die Nachkonzilszeit nicht ohne das Konzil erklärt werden kann, wie auch das Konzil nicht ohne die Vorkonzilszeit zu erklären ist, da in der Geschichte jede Wirkung eine Ursache hat und das Geschehen in einen Prozess eingeordnet wird, der oftmals sogar mehrere Jahrhunderte umfasst und nicht allein den Bereich der Ideen angeht, sondern den Bereich der Denkart und der Sitten.

Dass die Kirche in den letzten 50 Jahren in eine bisweilen dramatische Zeit der Krise getreten ist, dürfte niemand bestreiten. Worin liegen Ihrer Ansicht nach die Ursachen dieser Krise? Kann das Konzil als „Hauptursache“ für die Verdunstung des katholischen Glaubens angesehen werden?

de Mattei: (…) Die Übel der Kirche gehen dem Konzil voraus, sie begleiten es und folgen ihm natürlich. Diese Übel der Kirche sind nicht mit dem Konzil entstanden, sondern vielmehr explodiert.

Es ist kein Zufall, dass mein Buch nicht mit dem Datum des Beginns des II. Vatikanischen Konzils anhebt, sondern mit dem Modernismus und mit der Analyse der theologischen und intellektuellen Irrtümer, die unter den Pontifikaten von Pius X. bis Pius XII. zutage getreten sind. Der Modernismus war vom heiligen Pius X. hart bekämpft und schwer getroffen worden. Nachdem er dem Anschein nach verschwunden war, tauchte er langsam und schrittweise wieder in der Geschichte der Kirche auf, mit immer größerer Arroganz, bis er in das II. Vatikanische Konzil einmündete.

Der Anspruch, das Konzil von jeglicher Verantwortung für die gegenwärtige Krise freizusprechen, um sie allein einer schlechten Lesart seiner Dokumente zuzuweisen, scheint mir eine intellektuelle Vorgehensweise zu sein, die gegen die Geschichte geht und der Kirche nicht einmal einen guten Dienst leistet. Wer anders wäre denn für diese schlechte Interpretation der Dokumente verantwortlich wenn nicht die auf das Konzil folgenden Päpste, die dies gestattet haben?

Ein Hauptpunkt der Auseinandersetzung mit dem Konzil kann in der Bestimmung der „Tradition“ ausgemacht werden. Wie definieren Sie das Verhältnis zwischen Lehramt und Tradition?

de Mattei: In seinem nachsynodalen Apostolischen Schreiben „Verbum Domini“ hat Benedikt XVI. die Tradition zusammen mit der Heiligen Schrift als „die höchste Richtschnur des Glaubens“ bestimmt. Tatsächlich ist in der Kirche die „Richtschnur des Glaubens“ hinsichtlich dessen, was keinen definitorischen Rang besitzt, weder das II. Vatikanische Konzil noch das lebendige gegenwärtige Lehramt, sondern die Tradition, das heißt das unvergängliche Lehramt, das zusammen mit der Heiligen Schrift eine der beiden Quellen des Wortes Gottes bildet. Es wird unfehlbar mit dem Beistand des Heiligen Geistes vom Papst und den mit ihm vereinten Hirten gelehrt und vom gläubigen Volk geglaubt.

Es bedarf keiner theologischen Wissenschaft, um zu begreifen, dass im unangenehmen Fall eines – wahren oder scheinbaren – Kontrastes zwischen dem „lebenden Lehramt“ und der Tradition der Primat der Tradition zugewiesen werden muss, dies aus einem einfachen Grund: Die Tradition, die das in seiner Universalität und Kontinuität betrachtete „lebende Lehramt“ ist, ist an sich unfehlbar, während das sogenannte „lebende“ Lehramt – verstanden als die aktuelle Verkündigung des kirchlichen Hierarchie – dies nur unter bestimmten Bedingung ist. Die Tradition steht nämlich stets unter dem göttlichen Beistand; für das Lehramt trifft dies nur dann zu, wenn es sich außerordentlich äußert oder wenn es in ordentlicher Form in der Kontinuität der Zeit eine Glaubens- oder Sittenwahrheit lehrt.(Wenn es also zu einem Konflikt zwischen dem, was das Lehramt heute auf ordentliche Weise verkündet – nicht auf außerordentliche Weise im Wege dogmatischer Definitionen – und der Überlieferung der Kirche kommt, so ist der Überlieferung der Kirche der Vorzug zu geben. Das ist eine ganz wichtige Einsicht.)
(…)
Ließe man dagegen zu, dass das II. Vatikanische Konzil das hermeneutische Kriterium für die Art ist, die Tradition zu lesen, so müsste paradoxerweise dem Deutungshoheit zugewiesen werden, was der Deutung bedarf.
(…)
Das Konzil und der Kommunismus: wie beurteilen Sie die verfehlte Verurteilung des Kommunismus seitens des Konzils? Worin bestanden die Folgen, vor allem im Hinblick auf die Kulturrevolution der 68-Jahre? Kann man von einem Paradigmenwechsel in der Position der Kirche und ihres Lehramtes sprechen?
de Mattei: Die verfehlte Verurteilung des Kommunismus seitens eines Konzils, das sich die Auseinandersetzung mit den Problemen seiner damaligen Zeit vorgenommen hatte, scheint mir eine unverzeihliche Unterlassung zu sein. Die Konzilskonstitution „Gaudium et spes“ suchte den Dialog mit der modernen Welt in der Überzeugung, dass der von ihr zurückgelegte Weg, ausgehend vom Humanismus und Protestantismus bis hin zur Französischen Revolution und zum Marxismus, ein irreversibler Prozess sei. Tatsächlich aber stand die Moderne am Vorabend einer tiefen Krise, die dann in ein paar Jahren ihre ersten Symptome in der 68-Revolution offenbaren sollte. (Wobei Chesterton schon über vierzig Jahre vorher die Zeichen der Zeit erkannt hatte, und eine Revolution dieser Art durchaus erwartete… Die „ersten Symptome“, in denen sich die Krise der Moderne zeigte, waren sogar schon für de Tocqueville über 100 Jahre vor dem Konzil erkennbar. Man hätte also durchaus schon auf dem Konzil ganz ohne prophetische Gaben wissen können, wie tief die Krise war, in der die Moderne schon damals steckte. Und einige Köpfe auf dem Konzil wussten es – leider konnten sie sich nicht durchsetzen.)
Die Konzilsväter hätten mit einer prophetischen Geste die Moderne vielmehr herausfordern(ja! Das könnte man heute auch noch tun – es geschieht nur leider kaum, obwohl die tiefe Krise der Moderne und der sie nur noch steigernden Postmoderne bereits grell und offensichtlich vor unseren Augen liegen. Wir sind immer noch am dialogisieren und passen uns der „neuen Zeit“ an…) sollen als deren verwesenden Leib (treffendes Bild!) zu umarmen, wie dies leider geschah.
(…)
Warum scheint es so schwer zu sein, dem Modernismus auf rationaler, philosophischer und theologischer Ebene zu begegnen?
de Mattei: Meines Erachtens besteht die Hauptursache der Niederlage der Konservativen und die Wurzel der Schwäche der Kirche in der heutigen Zeit im Verlust jener theologischen, für das christliche Denken charakteristischen Sicht, die die Geschichte bis zum Ende der Zeiten als unaufhörlichen Kampf zwischen den beiden „Städten“ im Sinne des heiligen Augustinus interpretiert: der Stadt Gottes und der Stadt Satans. (Ecclesia militans sind wir hier auf Erden. Ein geistlicher Kampf – das ist ein wesentliches Charakteristikum der Welt, in der wir leben. Wie oft hat man das in Predigten der letzten fünfzig Jahre hören können? Selbst in päpstlichen Verlautbarungen fehlt dieser Aspekt oft völlig, oder wird zumindest so heruntergespielt, dass er seine Wirkung nicht entfalten kann.)

Als der kroatische Bischof von Split, Frane Franić, am 12. Oktober 1963 vorschlug, im Entwurf „De Ecclesia“ dem neuen Kirchentitel „peregrinans“ („pilgernd“) die traditionelle Benennung „militans“ („streitend“) hinzuzufügen, wurde sein Vorschlag abgelehnt. Das Bild, das die Kirche der Welt von sich bieten wollte, war nicht jenes des Kampfes, der Verurteilung oder der „controversia“, sondern des Dialogs, des Friedens, der ökumenischen und brüderlichen Zusammenarbeit mit allen Menschen.

Die Minderheit der Progressisten erlangte dabei nicht so sehr eine Änderung der Lehre der Kirche als vielmehr eine Ersetzung des hierarchischen und streitenden Bildes der Braut Christi mit dem Bild einer demokratischen, dialogisierenden und in die Geschichte der Welt eingegliederten Versammlung. In Wirklichkeit aber kämpft die Kirche, die im Fegefeuer leidet und im Paradies triumphiert, im Namen Christi auf Erden und wird daher „militans – streitend“ genannt. Diesen Geist neu zu finden scheint mit eine der dringenden Notwendigkeiten der Kirche unserer Zeit zu sein.

Abschließend eine Frage zur Liturgie. (…) Worin sehen Sie die Bedeutung der seit dem Motu proprio „Summorum Pontificum“ wieder mit vollem Heimatrecht in der Kirche ausgestatteten Liturgie der außerordentlichen Form des Römischen Ritus? Handelt es sich wirklich „um einen zweifachen Usus ein und desselben Ritus“ (vgl. Benedikt XVI., Schreiben anlässlich der Publikation des Motu proprio „Summorum Pontificum“, 7. Juli 2007) oder muss die heute „ordentliche Form“ als „Übergang“ zu jenen Ursprüngen gesehen werden, in denen die Zukunft liegt?
de Mattei: Das Heilige Opfer ist gewiss ein einziges, doch der „Novus Ordo“ Pauls VI. ist, wie mir scheint, sowohl im Geist als auch in der Form zutiefst verschieden vom alten Römischen Ritus. (Diesen Eindruck habe ich auch, besonders seitdem ich mit einiger Regelmäßigkeit beiden Formen beiwohnen kann.) In letzterem sehe ich nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft der Kirche. Die traditionelle Liturgie bildet in der Tat die wirksamste Antwort auf die Herausforderung des laizistischen Säkularismus, der uns angreift. (Ja, denn sie kann nicht säkularisiert werden. Ihre Formen sind zu klar und deutlich, zu fixiert, ihre Worte zu treffend, zu großartig, als dass der heilige, übernatürliche Charakter selbst jemandem, der nur beiläufig und ihne Vorwissen in eine solche Messe „hineingerät“, verborgen bleiben könnte. Genau dies ist auch der Grund, warum sie von den Anhängern der Anpassung an die Zeit so beharrlich unterdrückt wird.)
(…)

Die „Reform der Reform“, von der die Rede ist, hat Sinn und Wert nur als „Übergang“ des „Novus Ordo“ hin zum traditionellen Ritus und nicht als Vorwand zur Aufgabe des letzteren, der in seiner Unversehrtheit und Reinheit bewahrt werden muss.

(…)

Ein sehr schönes Interview, dem ich mit meinem bescheidenen Sachverstand gar nicht mehr viel hinzufügen kann. De Mattei drückt klar und deutlich aus, dass er (1) entschlossen und in kindlicher Anhänglichkeit zum Heiligen Vater und zur Kirche steht, (2) jedoch sehr viel und in sehr tiefgreifender Weise an den Aktionen vieler Mitglieder dieser Kirche in verantwortlichen Positionen, auch und gerade auf dem II. Vatikanischen Konzil, zu kritisieren hat, und bringt (3) diese Kritik mit dem gebotenen Respekt zum Ausdruck, und nimmt diese Kritik nicht zum Anlass, einen theologischen Bruch zu konstruieren, der so gar nicht stattgefunden haben mag.

Roberto de Mattei zum Zweiten Vatikanum

Aus der Einleitung des Werkes „Das zweite Vatikanische Konzil – Eine bislang ungeschriebene Geschichte“ von Roberto de Mattei (inzwischen in deutscher Übersetzung erhältlich):

„Die Hermeneutik der Kontinuität bekräftigt mit Recht den Primat des Lehramtes, aber nimmt das Risiko auf sich, nicht nur eine falsche theologische Konzeption zu eliminieren, sondern auch das Geschehen selbst, über das man diskutiert. Die Konsequenz dieses Unterfangens das Ereignis [des Konzils, Anm. von Catocon] zu eliminieren, zeigt sich darin, dass es heute keine ernsthafte Alternative zur Schule von Bologna gibt; dieser muss somit das Verdienst zuerkannt werden, die erste, wenn auch tendenziöse Rekonstruktion der Fakten des Geschehens vorgelegt zu haben.

Viele Anhänger der These von der Hermeneutik der Kontinuität lassen die geschichtliche Dimension des Konzils als Ereignis unberücksichtigt und trennen das Konzil von der nachkonziliaren Epoche ab, um letztere als eine Krankheit, die sich an einem gesunden Körper entwickelt hat, zu isolieren. Man hat sich jefoch die Frage zu stellen, ob die Tilgung der Ereignisdimension des Konzils dazu beiträgt, ein tiefgreifendes Verständnis für das zu bekommen, was in der nachkonziliaren Epoche vorgefallen ist. Das Zweite Vatikanische Konzil war in der Tat ein Ereignis, das nicht mit seiner feierlichen Schlusssitzung endete, sondern auch aus geschichtlicher Umsetzung und Rezeption bestand. Nach dem Konzil passierte etwas, das eine logische Folge davon war.“

In seinem Werk folgt de Mattei beharrlich und in beeindruckender Genauigkeit, unter Berücksichtigung der verfügbaren offiziellen Dokumente und einer Unzahl privater Aufzeichnungen der Teilnehmer, den Ereignissen des letzten Konzils und liefert damit ein unverzichtbares Grundlagenwerk für den Katholiken ab, der verstehen will, was damals eigentlich abgelaufen ist. De Mattei erzählt aber nicht nur die Geschichte des Konzils, sondern auch seine Vor- und Nachgeschichte, und weist auf die Zusammenhänge hin, die zwischen der vorkonziliaren Periode, dem Konzil selbst, und seiner späteren Umsetzung bestehen.

Allein die guten Kritiken, die de Mattei aus traditionellen und traditionalistischen Kreisen erhalten hat, weisen schon darauf hin, wo die Sympathien des Autors zu finden sind. Doch die Tatsache, dass de Mattei für sein Werk den (nicht gerade von Traditionalisten dominierten) angesehenen italienischen Historikerpreis „Premio Acqui Storia“ erhalten hat, lässt erkennen, dass de Matteis Konzilsgeschichte eine auch vom neutralen oder gar progressistischen Blickwinkel aus betrachtet ein profundes Werk historischer Gelehrsamkeit und Detailtreue ist, welches dennoch für den interessierten Laien auf verständlichem Niveau bleibt.

Das Bild, das de Mattei vom Konzil zeichnet, ist ein Gemischtes, das mir sehr viel plausibler erscheint, als die Karikaturen, die man manchmal in der Diskussion hört: Entweder war das Konzil „nur eines von vielen“ und eindeutig in Kontinuität mit der Tradition, oder es war „das zweite Pfingsten“, das „Ereignis der Kirchengeschichte“, durch das nun alles anders sei. Als Historiker enthält sich de Mattei eines abschließenden Urteils über derartige Fragen, da, wie er im Schlußwort schreibt, vom Tod Pauls VI. bis heute mehr als dreißig Jahre verstrichen seien, was eine zu geringe Zeitdauer darstelle, als dass sie dem Historiker erlaubte, die Geschehnisse dieser Zeit objektiv zu bewerten.“ Ähnliches gilt auch von den theologischen Fragen, die der ganzen Debatte zugrunde liegen. De Mattei schreibt:

„Am Ende dieses Buches sei es mir erlaubt, mich voller Verehrung an Seine Heiligkeit Benedikt XVI. zu wenden, in dem ich den Nachfolger Petri erkenne, dem ich mich unlöslich verbunden weiß, und ihm meine tiefe Dankbarkeit dafür zum Ausdruck zu bringen, die Tore zu einer seriösen Debatte über das Zweite Vatikanum aufgestoßen zu haben. Zu dieser Debatte, bekräftige ich, wollte ich einen Beitrag nicht als Theologe, sondern als Historiker leisten, wobei ich mich jedoch den Bitten jener Theologen anschließe, die in respektvoller und kindlicher Haltung den Stellvertreter Christi auf Erden darum bitten, eine vertiefte Untersuchung des Zweiten Vatikanischen Konzils in seiner ganzen Komplexität und Ausdehnung voranzubringen, um seine Kontinuität zu den zwanzig vorangegangenen Konzilien zu prüfen und um die Schatten und Zweifel zu zerstreuen, die seit fast einem halben Jahrhundert die Kirche leiden lassen – in der Gewissheit, dass die Pforten der Unterwelt sie niemals überwinden werden.“

Alles in allem das beste historische Werk über das Zweite Vatikanum, das ich bisher gelesen habe.

Anmerkung in eigener Sache: Die Reihe zum atheistischen Kommunismus wird bald fortgesetzt, vermutlich in den nächsten Tagen. Im Moment bin ich in meiner freien Zeit durch Roberto de Matteis exzellentes Werk und die Scholien von Dávila abgelenkt.

Kontinuität oder Bruch?

Papst Pius XI.:

10 Daraus geht hervor, ehrwürdige Brüder, aus welchen Gründen der Apostolische Stuhl niemals die Teilnahme der Seinigen an den Konferenzen der Nichtkatholiken zugelassen hat. Es gibt nämlich keinen anderen Weg, die Vereinigung aller Christen herbeizuführen, als den, die Rückkehr aller getrennten Brüder zur einen wahren Kirche Christi zu fördern, von der sie sich ja einst unseligerweise getrennt haben. Zu der einen wahren Kirche Christi, sagen Wir, die wahrlich leicht erkennbar vor aller Augen steht, und die nach dem Willen ihres Stifters für alle Zeiten so bleiben wird, wie er sie zum Heile aller Menschen begründet hat. Die mystische Braut Christi ist ja im Laufe der Jahrhunderte niemals befleckt worden, und sie kann nie befleckt werden nach den schönen Worten Cyprians: „Zum Ehebruch lässt sich die Braut Christi nicht führen, sie ist unbefleckt und züchtig. Nur ein Haus kennt sie, die Heiligkeit eines Schlafgemaches bewahrt sie in keuscher Scham (21). Dieser heilige Märtyrer wunderte sich deshalb auch mit Fug und Recht, wie jemand glauben konnte, „diese der göttlichen Festigkeit entstammende und mit himmlischen Geheimnissen engverbundene Einheit könne bei der Kirche zerrissen und durch den Widerstreit einander widerstrebender Meinungen aufgelöst werden“ (22). Der mystische Leib Christi, das ist die Kirche, ist ja eine Einheit (23), zusammengefügt und zusammengehalten (24) wie der physische Leib Christi, und so ist es unangebracht und töricht zu sagen, der mystische Leib könne aus getrennten und zerstreuten Gliedern bestehen. Wer mit dem mystischen Leib Christi nicht eng verbunden ist, der ist weder ein Glied desselben, noch hat er einen Zusammenhang mit Christus, dem Haupte (25)

11 In dieser Kirche Christi kann niemand sein und niemand bleiben, der nicht die Autorität und die Vollmacht Petri und seiner rechtmäßigen Nachfolger anerkennt und gehorsam annimmt.

— Papst Pius XI., Enzyklika Mortalium Animos

Das II. Vatikanische Konzil:

3. In dieser einen und einzigen Kirche Gottes sind schon von den ersten Zeiten an Spaltungen entstanden (15), die der Apostel aufs schwerste tadelt und verurteilt (16); in den späteren Jahrhunderten aber sind ausgedehntere Verfeindungen entstanden, und es kam zur Trennung recht großer Gemeinschaften von der vollen Gemeinschaft der katholischen Kirche, oft nicht ohne Schuld der Menschen auf beiden Seiten. Den Menschen jedoch, die jetzt in solchen Gemeinschaften geboren sind und in ihnen den Glauben an Christus erlangen, darf die Schuld der Trennung nicht zur Last gelegt werden – die katholische Kirche betrachtet sie als Brüder, in Verehrung und Liebe. Denn wer an Christus glaubt und in der rechten Weise die Taufe empfangen hat, steht dadurch in einer gewissen, wenn auch nicht vollkommenen Gemeinschaft mit der katholischen Kirche. Da es zwischen ihnen und der katholischen Kirche sowohl in der Lehre und bisweilen auch in der Disziplin wie auch bezüglich der Struktur der Kirche Diskrepanzen verschiedener Art gibt, so stehen sicherlich nicht wenige Hindernisse der vollen kirchlichen Gemeinschaft entgegen, bisweilen recht schwerwiegende, um deren Überwindung die ökumenische Bewegung bemüht ist. Nichtsdestoweniger sind sie durch den Glauben in der Taufe gerechtfertigt und Christus eingegliedert (17), darum gebührt ihnen der Ehrenname des Christen, und mit Recht werden sie von den Söhnen der katholischen Kirche als Brüder im Herrn anerkannt (18).

Hinzu kommt, daß einige, ja sogar viele und bedeutende Elemente oder Güter, aus denen insgesamt die Kirche erbaut wird und ihr Leben gewinnt, auch außerhalb der sichtbaren Grenzen der katholischen Kirche existieren können: das geschriebene Wort Gottes, das Leben der Gnade, Glaube, Hoffnung und Liebe und andere innere Gaben des Heiligen Geistes und sichtbare Elemente: all dieses, das von Christus ausgeht und zu ihm hinführt, gehört rechtens zu der einzigen Kirche Christi.

(…)

Ebenso sind diese getrennten Kirchen (19) und Gemeinschaften trotz der Mängel, die ihnen nach unserem Glauben anhaften, nicht ohne Bedeutung und Gewicht im Geheimnis des Heiles. Denn der Geist Christi hat sich gewürdigt, sie als Mittel des Heiles zu gebrauchen, deren Wirksamkeit sich von der der katholischen Kirche anvertrauten Fülle der Gnade und Wahrheit herleitet.

— II. Vatikanisches Konzil, Unitatis Redintegratio

Alle Hervorhebungen von Catocon.

Floskelpolizei: „Das Konzil anerkennen“

Immer wieder wird von diversen Seiten der kirchenpolitischen Debatten gefordert, irgend jemand möge doch bitte „das Konzil anerkennen“. Katholiken der Reformation rufen dieses Schlagwort der Piusbruderschaft und jedem Laien zu, der nicht bei drei am Altar steht. Konservative und traditionelle Katholiken rühmen sich zuweilen damit, dass sie „das Konzil anerkennen“ und grenzen sich damit von den Piusbrüdern ab, die diese Anerkennung bekanntlich und beharrlich verweigern. Manche Piusbrüder sprechen von der Konzilskirche, so als sei dies etwas anderes als die Kirche vor dem Konzil, und erheben damit die Ablehnung der „Anerkennung des Konzils“ fast zum ersten Glaubenssatz.

Nun leben wir in einer Zeit, die Emotionalität mehr schätzt als Rationalität und Komik mehr als Logik, doch selbst heute haben Worte noch Bedeutungen, wenn sie auch immer seltener als solche erkannt werden. Das gilt auch für das „Anerkennen eines Konzils“. Vor einiger Zeit schrieb ich bereits über die Frage, was es eigentlich bedeute, die „Neue Messe“ anzuerkennen. Dort zählte ich insgesamt sieben Möglichkeiten auf, wie man die geforderte Anerkennung verstehen könne – es ist also offenbar notwendig, exakt zu beschreiben, was man meint, und nicht auf vieldeutigen Leerfloskeln zu beharren.

Der freundliche Verbandskatholik an der Ecke, der seine Freizeit mit Werbung für „Demokratisierung“ und „Aufbrechen des Patriarchats“ in der Kirche verbringt, hat sicher ganz andere Vorstellungen von „Anerkennung des Konzils“ als der traditionell katholische Petrusbruder, obgleich beide diese Formulierung in der einen oder anderen Weise unterschreiben würden. Auch Erzbischof Zollitsch und der Heilige Vater sind sich einig: Man muss das Konzil anerkennen. Aber was heißt das?

Wenn wir diese Frage stellen, dann müssen wir die dicken Bretter bohren. Wir müssen fragen, ob und, wenn ja, wie das konziliare Verständnis von Religionsfreiheit, von Ökumene, von Kollegialität der Bischöfe, von der Reform der Liturgie, von der Beteiligung von Laien und dergleichen mehr vereinbar mit der traditionellen Lehre der Kirche ist. Zu diesem Zweck braucht man umfassende Studien des lehramtlichen Materials vor dem letzten Konzil, eine gründliche und möglichst umfassende Auswertung und Interpretation der Konzilstexte im Lichte dieses lehramtlichen Materials, und dann muss der Versuch unternommen werden, die verbliebenen Differenzen zusammenzufassen und lehramtlich verbindlich festzulegen, was denn nun zu glauben sei.

Doch damit noch nicht genug: Man muss fernerhin die unglaublich vielfältige nachkonziliare Praxis untersuchen und die Frage stellen, inwiefern diese Praxis – die ja von den Konzilsvätern nach dem Konzil zumindest geduldet, oft mit vorangetrieben worden ist – vereinbar ist mit den Texten des Konzils auf der einen und den lehramtlichen Proklamationen vor 1962 auf der anderen Seite. Diese massive Untersuchung sprengt natürlich sowohl den Rahmen meines Blogs als auch den Rahmen meiner Fachkenntnis und ist sicher etwas für ein ganzes Team wissenschaftlich hochstehender theologischer Experten mit einer Wagenladung „sentire cum ecclesia“.

(Die Frage, ob ein Konzil, das derartige Klarstellungen benötigt und dermaßen viel Unsicherheit unter den Gläubigen selbst fast fünfzig Jahre nach seiner Eröffnung hervorruft, wirklich „pastoral“ allzu hilfreich war, lassen wir einmal stillschweigend beiseite…)

Bevor wir also sagen können, was „das Konzil anerkennen“ bedeutet, müssen wir klären, welches Verständnis des Konzils zugrunde gelegt werden soll. Der Leitfaden ist dabei sicherlich die vom Heiligen Vater vorgeschlagene Hermeneutik der Reform in Kontinuität, wie er es in seiner berühmten Ansprache im Jahre 2005 formuliert hat. Doch muss dieser hermeneutische Rahmen mit Inhalt gefüllt werden. Bei etlichen Themen scheint der Rahmen zumindest auf den ersten Blick nicht zu passen. Wie kann man es vereinbaren, dass die Religionsfreiheit im liberalen Sinne immer von der Kirche verurteilt worden ist, und dann plötzlich die Religionsfreiheit nicht nur als praktische Notwendigkeit der gemischtreligiösen Gesellschaft geduldet, sondern als Naturrecht propagiert wird? Wie passen interreligiöse Gebetstreffen wie etwa in Assisi mit, zum Beispiel, der in Mortalium Animos dargelegten kirchlichen Lehre zu eben solchen interreligiösen Treffen zusammen? Diese und andere Fragen mögen sehr gute und zureichende Antworten haben, doch sie sind für den theologisch nicht geschulten Laien nicht unbedingt offensichtlich, um es einmal vorsichtig zu formulieren.

Solange es also nicht zu einer – lehramtlich verbindlichen – Klärung diverser scheinbarer Brüche zwischen vorkonziliarem und nachkonziliarem Lehramt kommt, ist es äußerst schwer zu sagen, man müsse das im Geiste der Hermeneutik der Kontinuität verstandene II. Vatikanum anerkennen. Ich bin jederzeit in der Lage, bestimmte Lehrsätze anzuerkennen, wenn die Kirche sie lehrt. „Extra ecclesiam nulla salus“ ist so ein Beispiel. Die Kirche lehrt es – das Thema ist damit durch. Man kann nun noch Argumente für den Satz anführen, und auch Gegenargumente finden, doch die richtige Lösung haben wir schon verraten bekommen. Hier haben wir es mit einem klaren, floskelfreien, verständlichen Satz zu tun. Er ist deutlich, selbst wenn er nicht deutsch ist.

Doch „das Konzil“? Welche konkreten Lehrsätze sind dem Gläubigen durch das Konzil zur Anerkennung vorgelegt worden? Wer kann überhaupt in einer floskelfreien Weise sagen, was „das Konzil“ uns, über einen vagen Geist des „Aggiornamento“ hinaus, sagen wollte? Die Texte kann man so oder so interpretieren. Als guter Katholik interpretiere ich sie im Sinne der Hermeneutik der Kontinuität im Lichte der Tradition. Ich stoße dabei auf Schwierigkeiten. Welche Lehrsätze soll ich glauben? Wo lehrt das Konzil solche Lehrsätze? Sie stehen nirgendwo. Die Päpste haben seit dem Konzil oft gesagt, es seien keine Dogmen definiert worden. Gut, aber es gibt zu glaubende Lehrsätze, die nicht im Rang eines Dogmas stehen. Was ist mit denen? Welche sind sie? Was soll ich überhaupt anerkennen?

„Das Konzil“ kann man nur als historische Tatsache anerkennen. Es hat unzweifelhaft ein gültiges ökumenisches Konzil der katholischen Kirche stattgefunden. Das kann ich anerkennen – es ist ein klarer Satz mit einer klaren Bedeutung. Deutlich, und in diesem Fall sogar deutsch. Doch was das Konzil bedeutet? Woher soll ich das wissen? Woher soll irgendjemand das wissen? Ist die Bedeutung des Konzils das, was die Mehrheit der Konzilsväter hat aussagen wollen? Das, was der Heilige Geist hat aussagen wollen? Oder irgendetwas anderes?

Ich erkenne alle Dogmen der Kirche an, weil es sich hier um klare Lehrsätze handelt, präzise formuliert und wohlabgewogen. Doch die schwurbelige Konzilsprosa? Abstrakt gesehen erkenne ich sie auch an. Es hat sie gegeben, und ich gehe davon aus, dass der Heilige Geist die Kirche nicht völlig in die Irre lenken wird. In diesem Sinne erkenne ich das Konzil an. In diesem Sinne tun es aber auch die Piusbrüder.

Doch nach den Aufforderungen des Konzils zu handeln? Das Konzil in dem Sinne anzuerkennen, dass man die spezifischen Dokumente, die das Konzil hervorgebracht hat, auch inhaltlich als sicheren Leitfaden im Glauben annimmt? Dazu müsste man erst einmal wissen, was überhaupt mit diesen spezifischen Texten gemeint ist.

Daher braucht man dringend theologisch-dogmatische Gespräche, wie sie in den letzten zwei Jahren zwischen der Piusbruderschaft und dem Vatikan stattgefunden haben. Wir brauchen mehr davon, wir brauchen sie auf allen Ebenen, die dazu inhaltlich befähigt sind, und sie stellen neben der Restauration einer würdigen Liturgie die zentrale Aufgabe der nächsten Jahre dar. Am Ende muss eine Klarstellung des Konzils stehen – das muss keine Abkehr von den Aussagen des Konzils sein, nur damit man mich nicht falsch verstehe. Ich meine wirklich eine Klarstellung, in der in klaren, verständlichen Sätzen festgelegt wird, was das Konzil uns eigentlich zu sagen hatte, und in welchem Verhältnis es genau zu vorkonziliarem Lehramt und zur postkonziliaren Praxis stand.

Man kann jedem Kind mit etwas Aufwand erklären, was mit „extra ecclesiam nulla salus“ gemeint ist. Doch was genau steht in „Nostra aetate“ oder „Dignitatis humanae“?

Ich halte es also für sinnlos, die Forderung nach „Anerkennung des Konzils“ aufzustellen, wenn und insofern nach wie vor nicht autoritativ geklärt ist, wie das Konzil denn nun zu verstehen sei. Ja, erkennen wir das Konzil an – als ein gültiges ökumenisches Konzil, als historische Tatsache, und gestehen wir ihm durchaus zu, im strengen Sinne keine Irrtümer gelehrt zu haben. Doch die Frage bleibt: Welche Lehrsätze unterhalb des Ranges eines Dogmas wurden durch das Konzil hinzugefügt oder verändert? Und lasst uns diese dann anerkennen, wenn wir einmal wissen, welche es sind.

Bis dahin brauchen wir theologische Klarstellungen. Ich weiß nicht, ob die Piusbruderschaft genauso denkt. Abgesehen von der gelegentlichen Messe (mangels erreichbarer traditioneller Messen in meiner Umgebung) in einem ihrer Priorate habe ich keine Verbindungen dorthin. Ihre Forderung nach theologischen Klarstellungen lässt zumindest darauf schließen, dass es ähnliche Ansätze in diesen Kreisen gibt. Sollte das so sein, dann wäre das ein sehr gutes Zeichen. Denn in Anbetracht der verheerenden Ereignisse seit dem Konzil ist eine Neubestimmung des Umgangs der Kirche mit den Herausforderungen der Moderne offenbar dringend erforderlich.

Die Kirche braucht also mal wieder einen Dialogprozess. So ähnlich wie hier in Deutschland.

Nur anders.

Kontinuität und Bruch

Viel wird darüber spekuliert, ob das 2. Vatikanische Konzil mit der Tradition der Kirche vereinbar sei, und wenn ja, wie. Dass es zumindest dem Anschein nach Brüche in Liturgie, Glaube und Verkündigung gibt, ist wohl unbestreitbar. Ob es aber tatsächlich Brüche sind, wird derzeit kontrovers diskutiert. Hierzu einige Thesen, die hoffentlich einen kleinen Beitrag zur Klärung der Debattenlage leisten können:

1. Die Piusbruderschaft und die selbsternannten Reformkatholiken sind sich einig, das Konzil sei als Bruch zu lesen und keinesfalls vereinbar mit der Tradition der Kirche. Der Unterschied ist nur, die Piusbrüder sehen diesen Bruch als schlecht, die Reformkatholiken als gut.

2. Unabhängig von der Frage, ob theologisch gesehen ein dogmatischer Bruch stattgefunden hat, hat es in der kirchlichen Praxis auf Gemeinde- und oft auch Diözesanebene einen Bruch gegeben, der einen weitgehenden Glaubensverlust bis tief hinein in einstmals gut katholische Regionen der westlichen Welt begünstigt hat. Gegen diesen Bruch gilt es auf jeden Fall anzukämpfen, welches Ergebnis theologische Diskussionen über das Konzil auch immer bringen mögen.

3. In jedem Fall ist das Konzil von Seiten vieler deutscher Bischöfe (aber auch in anderen westlichen Ländern) als Bruch mit der lehramtlichen und liturgischen Tradition der Kirche interpretiert und umgesetzt worden. Die gleichen Bischöfe, die auf dem Konzil vorgeblich „Kontinuität und vorsichtige Reform“ im Sinn hatten, als sie die Texte des Konzils verabschiedeten, fuhren dann heim und vollzogen einen riesigen Bruch mit der gesamten Tradition der Kirche in allen Bereichen. Dies ist absolut unglaublich! Natürlich war es durchaus die Absicht sehr vieler Konzilsväter, genau diesen Bruch herbeizuführen.

4. Die Absicht des Heiligen Geistes bei diesem Konzil muss natürlich nicht identisch sein mit der Absicht der Konzilsväter. Daher würde selbst das Eingeständnis, dass die Mehrheit der Konzilsväter mit der Kirche aufräumen und eine Neue Kirche schaffen wollten (wohl die radikalstmögliche Annahme), nichts darüber aussagen, ob die Beschlüsse des Konzils im Einklang mit der Überlieferung stehen oder nicht.

5. Messen wir das Konzil an seinen Früchten, so bleibt ein sehr bitterer Geschmack im Mund. Zumindest so wie das Konzil faktisch auf Gemeinde- und Diözesanebene interpretiert und umgesetzt worden ist, hat es ein ungeahntes Zerstörungswerk vollbracht, so dass der Wiederaufbau Generationen dauern wird.

6. Messen wir die Gegner des Konzils an ihren Früchten, dann bietet sich ein gemischtes Bild. Besonders in jenen Gemeinschaften, die nicht in voller Einheit mit dem Heiligen Vater stehen, wie der Piusbruderschaft, macht sich zuweilen ein unguter Geist der Spaltung breit. Aber sowohl bei der Petrusbruderschaft und den anderen „Ecclesia-Dei-Gemeinschaften“ (in voller Einheit mit Rom) als auch bei der Piusbruderschaft wird der unverkürzte katholische Glaube gelehrt, gibt es genug Priesterberufungen und sind alle Altersgruppen vertreten. Hier, um einmal eine Floskel des Dialogprozesses zu verwenden, „hat Kirche Zukunft“. Es ist nun eine wichtige Aufgabe, möglichst viele dieser Gemeinschaften zusammenzuscharen unter der Führung des Römischen Papstes.

7. In diesem Sinne ist die Rückkehr der Piusbruderschaft in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche eine zentrale Aufgabe der nächsten Jahre. Die Piusbruderschaft wird anerkennen müssen, dass die „Neue Messe“, gefeiert nach den liturgischen Normen des Messbuchs, gültig ist, und zumindest nicht schädlich für den Gläubigen. Sie müssen sie nicht feiern und nicht gut finden, aber sie dürfen nicht vom Besuch einer ehrfürchtig zelebrierten Novus Ordo Messe abraten. Die Kritik am Konzil und den wenigstens sehr leicht missverständlichen Lehren zu Ökumene, Religionsfreiheit usw. ist aber ebenso notwendig wie im Rahmen der vollen Gemeinschaft der Kirche möglich – solange man sie mit etwas weniger Polemik vorbringt, als manchmal dort üblich.

8. Ich sehe das Hauptproblem auf dem Weg dieser Einigung in der Strukturfrage, verbunden mit der Unsicherheit über das nächste Pontifikat. Es ist derzeit ein berechtigtes Anliegen der Piusbrüder, nicht der Jurisdiktion der Bischöfe unterstellt zu werden, da in den westlichen Ländern die Mehrzahl von ihnen ihre Autorität sofort im Dienste der „Hermeneutik des Bruches“ zur Unterdrückung der kirchlichen Tradition verwenden würde. Es muss also eine Struktur gefunden werden, die drei wesentliche Anforderungen erfüllt:

(1) Sie muss „zollitschfest“ sein, also der Piusbruderschaft ein Handeln in allen Diözesen auch ohne die Einwilligung des Ortsbischofs ermöglichen.

(2) Sie muss es der Piusbruderschaft ermöglichen, ihre berechtigte Kritik am Konzil und seinen postkonziliaren Auswüchsen freimütig und mit deutlichen (wenn auch weniger polemischen) Worten vorzubringen. Dies beinhaltet vornehmlich die Kritik am Novus Ordo, auch hinsichtlich grundsätzlicher theologischer Mängel, nicht nur hinsichtlich liturgischer Missbräuche; die Kritik am Ökumenismus, religiösen Indifferentismus, und dem konziliaren Begriff von Religionsfreiheit, schließt aber andere Kritikpunkte nicht aus.

(3) Sie muss die Nachfolgefrage regeln: Die Weihe neuer Bischöfe muss möglich sein, damit sich ein Drama wie 1988 unter einem zukünftigen der Tradition feindlich gegenüberstehenden Papst nicht wiederhole.

9. Papst Benedikt ist sehr alt und nicht bei bester Gesundheit. Und während wir alle für ein langes Leben beten und es ihm auch wünschen sollten, müssen wir der Tatsache ins Gesicht sehen, dass er nicht unsterblich ist. Als Papst und schon in den Jahrzehnten vorher hat er sehr viel dazu beigetragen, dass die Kirche einer „Hermeneutik des Bruchs“ nicht höchsten Segen gegeben hat. Seine Handschrift ist auf einer schier unendlichen Vielzahl traditionstreuer Schritte zu finden, schon während des Pontifikats seines Vorgängers. Was kommt nach ihm? Wie viel Annäherung an die traditionelle Liturgie und den traditionellen Glauben der Kirche ist „auf seinem Mist gewachsen“? Die Unsicherheit über die Identität des nächsten Papstes ist ein großes psychologisches Hindernis für eine volle Einheit der Piusbruderschaft mit Rom. Selbst wenn man direkt Rom unterstellt wäre – zumindest unter dem Papst steht man auf jeden Fall. Und was ist, wenn, Vorsicht Schreckensvision, Kardinal Schönborn oder jemand, der so denkt wie Erzbischof Zollitsch oder Kardinal Marx, einmal der Bischof von Rom ist?

Die Kirche befindet sich in einer tiefen Krise – und das erstreckt sich bis hin zu den Kardinälen, die einen Papst im Konklave wählen.

10. Letztlich, das ist meine feste Überzeugung, wird die Kirche Gottes als Sieger aus den derzeitigen Streitigkeiten hervorgehen. Das mag aber durchaus noch einige Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern. Derzeit gibt es wenig Hoffnung für eine Renaissance des wahren katholischen Glaubens, der zuweilen selbst in den Bischofskonferenzen eine bedrängte Minderheit zu sein scheint. In welcher Rolle das 2. Vatikanische Konzil aus der Rückschau in 300 Jahren einmal gesehen werden wird, vermag ich nicht zu sagen. Das Wahrscheinlichste ist aber, dass darüber nicht groß gesprochen werden wird. Nicht alle Konzilien sind der „Große Wurf“ gewesen. Manche haben auch einfach etwas Richtiges gesagt, das seinen Nutzen gehabt haben mag, aber im großen Spiel der Dinge nicht allzuviel Bedeutung hatte.

Diese kurzen Ausführungen stellen in keiner Form eine erschöpfende Behandlung der Thematik von Kontinuität und Bruch im 2. Vatikanischen Konzil dar. Die dazu erforderliche gründliche Analyse der Texte, Zeitumstände, Ursachen und Folgen des Konzils sowie späterer lehramtlicher Dokumente im Vergleich mit Früheren übersteigt nicht nur mein Zeitkontingent, sondern auch meine theologischen Fähigkeiten. Es wäre aber eine Analyse, die in Rom und unter Führung von Rom, durchgeführt werden sollte.