Alle Vergleiche hinken. Dies gilt auch und gerade für den folgenden Vergleich zwischen politischem und theologischem „Konservatismus“. Der Vergleich hinkt sogar sehr stark, weil der christliche oder katholische theologische „Konservative“ über einen durch göttliche Offenbarung unhintergehbar zugesagten Schatz von Glaubenswahrheiten verfügt, die nicht mehr Gegenstand der theologischen Debatte sein können. Gerade für den Katholiken sind die fleischliche Auferstehung Christi, die immerwährende Jungfräulichkeit Marias, der Charakter der Messe als Opfer, die Einzigkeit und Heilsnotwendigkeit der Katholischen Kirche usw. nicht verhandelbare Gegenstände politischer oder quasipolitischer Debatten. Sie sind diplomatischen Zugeständnissen, ökumenischen oder interreligiösen Gesten oder opportuner Anpassung an den Zeitgeist schlicht und einfach nicht zugänglich.
Der theologische „Konservative“ vertritt also in seinem Festhalten an der überlieferten Glaubenswahrheit nicht bloß eine prinzipiell bestreitbare, möglicherweise falsche Überzeugung, dass eine bestimmte Sache bewahrenswert sei, sondern die gewisse Sicherheit, dass Gott seine Kirche in Fragen des Glaubens und der Sittenlehre in die Wahrheit und nicht in den Irrtum führen wird.
Politischer Konservatismus mag bis zu einem gewissen Grad Gegenstand individueller Temperamente sein. Mancher neigt vielleicht eher zur Risikobereitschaft und ist bereit, gesellschaftliche Veränderungen auszuprobieren, auch auf die Gefahr hin, dass sie sich als Irrtümer herausstellen und Schaden verursachen könnten. Ein anderer ist eher vorsichtig. Er bewertet die Vermeidung potenziell schädlicher Irrtümer höher als die Möglichkeit eventueller positiver Fortschritte. So unterscheiden sich die Menschen. In der politischen Sphäre kann man daher nicht objektiv sagen, ob in einer gewissen politischen Streitfrage der Konservative oder sein Gegner im Recht ist. In lehramtlich geklärten theologischen Fragen kann der Katholik hingegen genau diese Feststellung treffen. Wer behauptet, Christus sei gar nicht wirklich fleischlich auferstanden mit einem echten, sichtbaren, wenn auch verklärten Leib, sondern bloß in der Hoffnung oder religiösen Erfahrung seiner Anhänger, der leugnet eine sichere Glaubenswahrheit. Er hat nicht nur einfach ein experimentierfreudiges Temperament, oder ist für oder gegen Fortschritt, sondern er leugnet die Grundbasis des christlichen Glaubens.
Eine Person als „politisch konservativ“ einzustufen, gibt Auskunft über diese Person, über ihr Temperament, ihre Haltung zu Tradition und Fortschritt usw. Eine Person als „theologisch konservativ“ einzustufen, heißt einfach nur, dass sie an den sicheren und gewissen Glaubenswahrheiten festhalten will. Man könnte statt „theologisch konservativ“ also auch einfach „orthodox“ oder „katholisch“ sagen, was zugleich prägnanter und aussagekräftiger wäre.
Wenn ich nun diesen zugegeben extrem stark hinkenden Vergleich heranziehen möchte, dann nur, um zwei verschiedene Strömungen innerhalb der heutigen katholischen Kirche konzeptionell voneinander zu trennen, die beide kein kirchliches Dogma leugnen, sich aber dennoch in ihren theologischen Positionen deutlich voneinander unterscheiden. Zu diesem Zweck möchte ich die gestern bereits dargestellte Unterscheidung von „Strukturkonservatismus“ und „Wertkonservatismus“ heranziehen. Der Strukturkonservative hält an den gesellschaftlichen Strukturen fest. Er lehnt eine Veränderung ab, weil sie das Skelett der Gesellschaft, ihre Grundstruktur angreift. Der Strukturkonservative ist meist von vorsichtigem Temperament, schätzt Experimente überhaupt nicht, und fühlt sich wohl, wenn alles beim Alten bleibt. Der Wertkonservative hat ein ganz bestimmtes, inhaltlich klar definiertes Idealbild einer Gesellschaft im Auge, von dem er glaubt, dass bestimmte „Fortschritte“ oder „Reformen“ ihm entgegenstehen und deshalb verhindert werden müssen. Der Wertkonservative, sofern er wertkonservativ ist, lehnt Veränderungen gar nicht per se ab. Er lehnt Reform „x“ nicht ab, weil sie eine Veränderung der gesellschaftlich-politischen Struktur ist, sondern weil die Reform inhaltlich in die falsche Richtung geht.
Natürlich sind viele Strukturkonservative auch wertkonservativ (und umgekehrt), doch konzeptionell liegt hier eine klare Differenz vor.
Diese politische Unterscheidung möchte ich analog – wenn auch mit größter Vorsicht und Vorläufigkeit – auf die „kirchenpolitische“ Lage übertragen. Es gibt Kräfte in der Kirche (die üblichen Reformkatholiken), die weder struktur- noch wertkonservativ sind. Sie beharren nicht auf den überlieferten kirchlichen Strukturen, und auch nicht auf den Glaubensinhalten. Dann gibt es Kirchenmänner wie den Erzbischof Müller, die durchaus an den überlieferten, hierarchischen Strukturen festhalten möchten, die etwa das Frauenpriestertum, die diversen Laienaufstände usw. immer eindeutig und unmissverständlich abgelehnt haben, und die auch die Struktur der katholischen Theologie beibehalten möchten. Sie bleiben bei den traditionellen theologischen Begriffen. Sie wollen keine neue Theologie schaffen, die den offenen Bruch mit der traditionellen, katholischen Theologie vollzieht. Kurzum: Sie sind für Kontinuität der Strukturen in jeder Hinsicht.
Und doch verändern sie subtil die Bedeutung überlieferter Glaubenswahrheiten. Wenn Erzbischof Müller die Jungfräulichkeit, die Maria auch heute noch hat, so stark spiritualisiert, dass man darin nur noch mir sehr viel Wohlwollen ein Bekenntnis zur auch physischen Jungfräulichkeit lesen kann, dann haben wir genau das, was ich mit dem hinkenden Vergleich zum „Strukturkonservatismus“ beleuchten möchte. Ebenso, wenn derselbe Erzbischof erklärt, man hätte den auferstanden Jesus nicht mit einer Filmkamera aufnehmen können. Hier wird der Leib des Auferstandenen so stark spiritualisiert, dass er nicht mehr materiell genug wäre, dass diese Materie auch objektiv, unabhängig von den „Erfahrungen“ gläubiger Menschen wahrnehmbar wäre. Dies schließt zwar die traditionelle Deutung nicht explizit aus – bricht also nicht mit der Struktur der katholischen Überlieferung – verschiebt aber die Inhalte so stark, dass im Grunde eine andere Theologie dabei herauskommt. Ein fleischlicher, verklärter Leib, den der zweifelnde Thomas anfassen, und der Fisch essen konnte, ist eine ganz andere Sache, als ein spiritualisierter Leibrest, der nur in den Erfahrungen der Gläubigen überhaupt wahrnehmbar ist, selbst wenn beide Deutungen formal in Einklang mit der traditionellen Doktrin zu bringen sein sollten.
Hier haben wir den Unterschied zwischen strukturkonservativem und wertkonservativem Denken auch in der katholischen Theologie. Beide Arten von „Konservativen“ sind formal orthodox – sie leugnen formal keine Glaubenswahrheit. Und doch ist die Haltung, die etwa hier zum Ausdruck kommt grundsätzlich anders als die, die Erzbischof Müller zum Ausdruck bringt.
Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen einer Hermeneutik der strukturellen Kontinuität („Kontinuität des einen Subjekts Kirche“, wie es der Heilige Vater ausdrückt), und einer Hermeneutik der inhaltlichen Kontinuität, in der nicht nur die gleiche Kirche mit den gleichen Strukturen ihrer göttlichen Verfassung die gleichen Glaubenssätze lehrt, sondern in der sie auch noch inhaltlich dasselbe mit diesen Glaubenssätzen meint.
Beide lehnen die „Hermeneutik des Bruches“ ab, doch das heißt noch nicht, dass sie sich einig in ihrem Verständnis von Kontinuität wären. Dies ist weder bei dem ewigen Zankapfel des letzten Konzils der Fall, noch bei allen anderen Fragen des Glaubens und der Sittenlehre. Ein Verfechter der Hermeneutik der strukturellen Kontinuität beharrt auf der Kirche wie sie immer war, doch er ist bis zu einem gewissen Grad bereit, die Bedeutung der Strukturen (auch sprachlicher Strukturen, wie Glaubenssätzen) neu zu fassen oder umzuinterpretieren. Er geht dabei nicht so weit wie der typische Modernist, der gleich das ganze Dogma umstülpt und einfach eine politisch korrekte Floskel über Nächstenliebe daraus macht, aber er feilt durchaus an den Inhalten auf eine Weise, dass die Glaubenswahrheit nachher einen anderen Bedeutungshorizont hat, selbst wenn die Worte unverändert bleiben und kein inhaltlicher Aspekt direkt geleugnet wird.
Ich möchte abschließend noch zweierlei betonen: Erstens, dass es sich hier um eine konzeptionelle Unterscheidung handelt. Verschiedene Katholiken, wie etwa der Heilige Vater, Erzbischof Müller, Bischof Fellay, Catocon und viele andere, werden sicherlich von beiden Arten der Kontinuität etwas in sich haben. Gewisse inhaltliche Verschiebungen wird selbst der schärfste real existierende Verfechter einer umfassenden, inhaltlichen Kontinuität nicht ablehnen, solange sie fernab jeder festgelegten Glaubenswahrheit liegen, und auch der Anhänger einer „strukturellen Kontinuität“ im oben angedeuteten Sinne ist nicht zu jeder Umdeutung der Strukturen bereit, weil er weiß, dass ein solches Unterfangen in häretischem Modernismus enden kann, wenn man sich nicht vorsieht. Insofern ist der reale Unterschied geringer als der idealtypische. Ich glaube jedoch, dass diese beiden Idealtypen in der realen katholischen Welt vielfache Anwendung finden können.
Zweitens, dass ich mir nicht anmaße, die eine oder die andere Seite außerhalb des orthodoxen, glaubenstreuen Katholizismus zu verorten. Solche Feststellungen zu treffen ist nicht meine Sache, und darüber bin ich auch sehr glücklich. Ich versuche hier nur, mittels eines hinkenden, doch meines Erachtens trotzdem nützlichen Vergleichs aus der politischen Sphäre, einige Eindrücke zu vermitteln, denen ich mich bei der Betrachtung der katholischen Landschaft nicht verwehren kann. Der Zweck dieses Essays ist daher Analyse, nicht Urteil.