Der Konservative als Nachhut

Gemeinhin wird in unserem politischen System zwischen fortschrittlichen und konservativen Kräften unterschieden. Die einen, so geht dieser Mythos, arbeiteten auf die Umgestaltung der Gesellschaft durch Reformen hin, die anderen wollten den bestehenden Zustand bewahren. Sofern der heutige politische Diskurs überhaupt noch über kohärente Kategorien verfügt, die sich nicht am unmittelbaren Nutzen einer Wählergruppe oder der ökonomischen, politischen und medialen Elite orientieren, reduziert sich politisches Denken auf die Differenz zwischen Liberalen und Sozialdemokraten bzw. Sozialisten und den Kontrast zwischen Fortschrittlichen und Konservativen.

Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, diese Begriffe hätten einen sinnvollen Inhalt, der sich tatsächlich zumindest ungefähr abgrenzen läßt. Dies ist auch nicht falsch, denn schließlich kann man wirklich relevante Unterschiede zwischen diesen politischen Grundhaltungen oder Ideologien angeben. Doch verdecken diese oberflächlichen Unterscheidungen meiner Erfahrung nach eine viel tiefere Verbundenheit, als die teils heftig ausgetragenen Differenzen zunächst den Anschein machen.

Mögen sich liberale und sozialdemokratische Redner auch über die optimale Höhe der Steuersätze uneinig sein, und mag zwischen fortschrittlichen und konservativen Politikern ein Unterschied etwa über den Ausbau der frühkindlichen Betreuung bestehen, so basieren diese Unterschiede doch wieder auf viel tiefer liegenden Gemeinsamkeiten. So leugnen weder die meisten Liberalen noch die meisten Sozialdemokraten oder Sozialisten, dass der Staat das Recht hat, Steuern einzuziehen – sie streiten sich nur über die Höhe. Sie sind sich einig, dass die Globalisierung so unumgänglich wie großartig ist – nur schwärmen die einen für den globalen Markt, und die anderen hätten am liebsten den Weltwohlfahrtsstaat, der die bösen Kapitalisten in ihre Schranken verweist.

Ebenso streiten sich fortschrittliche und konservative Kräfte tatsächlich über das Betreuungsgeld. Doch sie sind sich einig, dass Männer und Frauen prinzipiell die gleichen gesellschaftlichen und familiären Rollen übernehmen sollen, dass kostenlose „Betreuung“ in Krippen für Kleinkinder überhaupt staatlich unterstützt werden soll, dass spätestens am dem dritten Lebensjahr des Kindes möglichst alle Mütter wieder einer ganztägigen Erwerbsarbeit nachgehen sollen usw.

In allen diesen Fällen überdecken oberflächliche Streitigkeiten eine viel grundsätzlichere Einigkeit. Ein wesentlicher Grund dafür liegt in der Natur des Konservatismus. Es gab einmal eine Zeit, nämlich im 19. Jahrhundert, als nationalistische und liberale Bestrebungen die Avantgarde des Fortschritts und der Modernisierung darstellten. Konservative, die dagegen opponierten, hielten meist an den christlichen Monarchien Europas oder am monarchischen Absolutismus fest. Doch bald verdrängten neue Ideen die Liberalen und Nationalen von der Speerspitze des Fortschritts. Sozialistische und Sozialdemokratische Ideen übernahmen spätestens am Anfang des 20. Jahrhunderts diese Rolle. Liberale, Nationale und Konservative fanden sich nun gemeinsam auf der „Rechten“ wieder – sie alle lehnten die sozialistische Ideologie ab. Unter diesen Bedingungen war es nur sinnvoll, dass sie gemeinsam gegen den Sozialismus antraten. Der Liberalismus, der im 19. Jahrhundert der Linken angehörte, verband sich mit den klassischen konservativen Vorstellungen. Im Laufe der Jahrzehnte ging diese Drift weiter. Spätestens nach dem 2. Weltkrieg waren Liberalismus und Konservatismus in den meisten westlichen Ländern fest verwachsen.

Im Moment erleben wir den nächsten Schritt dieser Entwicklung. Mit dem Aufkommen des radikalen Feminismus und der sogenannten 68er-Bewegung fanden sich klassische Sozialdemokraten der alten Schule immer mehr von der Speerspitze des Fortschritts verdrängt – ebenso wie einige Generationen vor ihnen die Liberalen und Nationalisten verdrängt worden waren. In den USA ist dies besonders drastisch an den Demokraten zu erkennen, die sich mit dem New Deal einer im Wesentlichen sozialdemokratisch ausgerichteten Position zugewandt hatten, nur um dann spätestens 1972 von der Neuen Linken übernommen zu werden, die die Partei heute zu einer Interessenvereinigung transformiert hat, in der enthusiastische Zustimmung zu Abtreibung und Feminismus jederzeit klassische soziale Ziele übertrumpfen. Aber auch in Europa gibt es diesen Effekt. Es sind nicht umsonst gerade die sozial schwachen Schichten, in denen der unartikulierte Widerstand gegen Multikulturalismus, Feminismus und andere Ziele der Neuen Linken besonders stark brodelt, und in denen diverse Protestparteien (gleich welcher Ausrichtung) besonders starken Zuspruch finden.

So werden nun klassische Sozialdemokraten mehr und mehr nach „rechts“ abgedrängt, und finden sich damit in der Position wieder, die die Liberalen ausgangs des 19. Jahrhunderts bereits vorgefunden hatten. Der Marsch des Fortschritts ist weitergegangen, die Avantgarde hat ein neues Hobby gefunden – die „Gleichheit“ von Frauen, Homosexuellen, Ausländern usw. hat die „Gleichheit“ der Arbeiter längst überflügelt.

So verwundert es auch nicht, dass ein Thilo Sarrazin mit seinen Thesen generell als „rechts“ eingeordnet wird, obgleich seine Lösungen meist klassisch sozialdemokratisch sind.

Die alte liberal-national-konservative Koalition, die wohl unter Adenauer und Erhard in Deutschland ihren Höhepunkt gehabt haben dürfte, hat sich im Laufe der Jahrzehnte immer mehr von ihrem konservativen (und damit aufgrund der historischen Bedeutung des Christentums für Europa auch christlichen) Standbein verabschiedet. Faktisch haben explizit christliche oder traditionell konservative (also gegen „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ und die Werte von 1789 eingestellte) Kräfte praktisch kein politisches Gewicht mehr in den westlichen Ländern. Aus der liberal-national-konservativen Koalition ist wohl schon unter Kohl und Lambsdorff, spätestens aber in der Merkel-CDU das konservative Standbein weggebrochen.

Und angesichts der aktuellen Eurokrise versucht man das nationale Standbein auch zu verscharren, weil es für den Machterhalt der derzeitigen Elite hinderlich geworden ist.

Die „Rechte“ wird – zumindest sofern sie sich nicht nationalsozialistisch geriert (und das ist nur eine winzige Minderheit) – heute nahezu total von einer wirtschaftsliberalen Elite beherrscht, die noch vor 150 Jahren als links und äußerst progressiv gegolten hätte. Die heutige „Rechte“ ist internationalistisch, befürwortet eine globale Marktwirtschaft und einen globalen Nachtwächterstaat, lehnt traditionelle Bindungen an Familie, Heimat, Gott und Vaterland als rückschrittlich und unmodern ab, und möchte sie im Namen von Flexibilität und Fortschritt überwinden.

Die heutige Rechte ist also bloß die gestrige Linke und die gestrige Rechte bloß die vorgestrige Linke. So kann man erwarten, dass die morgige Rechte die heutige Linke sein wird. Diese Tendenzen sind in der Merkel-CDU bereits zu erkennen. Eine Ursula von der Leyen, deren etatistische Allmachtsphantasien wohl früheren sozialdemokratischen Wählern zu extremistisch vorgekommen wären, repräsentiert diese Rechte der Zukunft, die bloß die Linke der Gegenwart ist.

Dies ist letztlich das Problem des Konservatismus. Er bewahrt immer die Irrtümer seiner Vorgänger. Er ist die Nachhut des Fortschritts.

Vorhut und Nachhut sind zwei ganz unterschiedliche Teile einer Formation – doch sie gehören beide zu derselben Formation, selbst wenn sie in ihr verschiedene Aufgaben erfüllen.

Konservatismus ist daher überhaupt keine nennenswerte politische Kraft. Die „Konservativen“ des 19. Jahrhunderts konservierten bloß die politischen Strukturen des 18. Jahrhunderts, so wie die „Konservativen“ des 20. Jahrhunderts krampfhaft am liberalen und nationalen Denken des 19. Jahrhunderts klebten, und wie die heutigen Konservativen stupide die Ideen des 20. Jahrhunderts verteidigen.

„Konservativ“ ist kein politisches Bekenntnis, sondern ein Offenbarungseid. Der Konservative bekennt sich zu den gescheiterten Ideen von gestern, statt zu den Ideen von heute, die erst noch scheitern werden. Weder der Progressive noch der Konservative besitzen die geistige Munterkeit, sich auf die zeitlosen Ideen zu stützen, ganz gleich, ob sie gerade populär sind, oder als absurd gelten.

Der Konservative bewahrt die Strukturen, die der Progressive gestern eingeführt hat. Chesterton definierte den Progressiven als jemanden, der ständig neue Fehler mache, und den Konservativen als den, der die Korrektur dieser Fehler verhindere.

Konservatismus ist daher immer schwammig und fließend. Er beharrt auf Strukturen, nicht auf grundsätzlichen Wahrheiten.

Natürlich gibt es auch Menschen, die sich in Abgrenzung von dem hier beschriebenen Konservatismus als „wertkonservativ“ bezeichnen, um damit anzudeuten, dass sie nicht bloß irgendwelche historisch zufälligen gesellschaftlichen Entwicklungsstadien mumifizieren und für immer beibehalten wollen, sondern dass sie ganz bestimmte absolute, nicht verhandelbare Werte besitzen, in denen sie keine Handbreit nachgeben werden, komme was wolle. Diese „Wertkonservativen“ trifft meine Kritik nicht. Sie sind nicht Nachhut, sondern Überbleibsel. Sie sind der Rest, der sich mit dem Fortschritt gar nicht versöhnen kann, der nicht immer bloß einen Schritt hinter dem Fortschritt herzurennen gedenkt, sondern der starr und unflexibel auf seinen Überzeugungen beharrt.

Wenn sie wirklich fest und treu an den westlichen Traditionen, an Athen, Rom und Jerusalem, festzuhalten gedenken, dann haben sie ein solides Fundament, auf dem ihr Denken und ihr Handeln aufbauen kann. Sie sind keine orientierungslosen Mitläufer des Fortschritts – wie die heutigen etablierten „Konservativen“. Sie sind aber auch nicht gesellschaftsfähig. Sie sind ewige Störenfriede, weil sie sich nicht anpassen wollen und nicht anpassen können.

Erzbischof Woelki beklagt Intoleranz der Linken

Wie kath.net berichtet, ist der frisch ins Amt eingeführte Erzbischof von Berlin, Rainer Maria Woelki, „erstaunt“ über die Intoleranz der Linken. Anlass des Erstaunens ist scheinbar der Aufruf von mehr als der Hälfte der Politiker der Linkspartei, den Papst im Bundestag zu boykottieren. „Seit ich Erzbischof von Berlin bin, höre ich überall, dass Berlin eine offene, liberale, tolerante Stadt ist. Der Papst hat es verdient, dass man ihm in genau dieser Offenheit, mit Respekt und Toleranz begegnet“, erklärte Woelki dem oben verlinkten Bericht zufolge.

Was der sprichwörtlichen Toleranz der modernen, aufgeklärten, nicht-so-rückständigen Linken noch die Krone aufsetzt, ist dass einige der Anhänger eines Boykotts gegen den Papst noch nicht sicher sind, ob sie wirklich seiner Rede fernbleiben werden – manche wollen vielleicht auch einen Protest im Bundestag starten, vielleicht mit Kondomen am Finger, wie laut kath.net die Süddeutsche Zeitung berichtet.

Was also ist mit der Toleranz der Linken? Wo ist sie? Scheinbar wird sie ja nur dann eingefordert, wenn es um das „Tolerieren“ von moralisch wie gesundheitlich unsinnigen sexuellen Aktivitäten geht – in allen anderen Bereichen ist die heutige Linke (und damit meine ich jetzt nicht nur die Mitglieder der „Linkspartei“, sondern die gesamte Linke, was faktisch alle im deutschen Bundestag vertretenen Parteien mit einschließt) extrem intolerant. Ich weiß natürlich nicht, ob Seine Exzellenz diese offensichtliche Tatsache gerade erst bemerkt hat, oder derartige Einsichten schon länger hat, aber an erster Stelle ist ihm für diese wichtige Einsicht zu gratulieren.

Dass einige linksradikale, rot-totalitäre Bundestagsabgeordnete nicht einmal den minimalen Anstand besitzen, abweichende Meinungen von anderen Staatsoberhäuptern oder religiösen Persönlichkeiten wenigstens schweigend anzuhören, um sie später zu kritisieren, folgt letztlich notwendig aus der sittlichen Verrohung, welche mit der konsequenten Umsetzung der Ideologie des moralischen Relativismus einhergeht, und wird vom Papst als „Diktatur des Relativismus“ bezeichnet. Unser Heiliger Vater kennt den Geist der Linken sehr genau, da er anständig genug ist, sich ihre Worte anzuhören, und wird daher am besten wissen, wie mit solchen ungezogenen Kindlein umzugehen ist. (Ich als Traditionalist bin allerdings der Ansicht, ihr Vater sollte ihnen einfach mal den Hintern versohlen…)

Warum kommt es zur Diktatur des Relativismus, wann immer die Linke die Macht erlangt? (Und, erneut, „Linke“ im Zusammenhang der folgenden Ausführungen bezeichnet nicht nur die Mitglieder der gleichnamigen Partei, auch wenn diese die entsprechende Ideologie gleichsam paradigmatisch verkörpern, sondern gerade auch die Linken, die sich nicht in der Linkspartei beheimatet fühlen, und manchmal weniger aggressiv dieselbe Ideologie verfolgen – dazu gehören alle im deutschen Bundestag vertretenen Parteien. Denn Sozialismus und Liberalismus entspringen beide derselben ideologischen Wurzel, nämlich den Zielen der französischen Revolution, die ein sehr frühes Beispiel für die Diktatur des Relativismus im Völkermord gegen die königstreuen Bauern in der Vendée und im Wohlfahrtsausschuss, darstellt)

Die Ideologie der heutigen Linken in nichts anderes als die politische Umsetzung des Sündenfalls mit den Mitteln des Staates. Beim Sündenfall waren Adam und Eva nicht bereit, sich Gottes Willen unterzuordnen, und wollten für sich, unabhängig von Gott, ihr Glück machen. Modern formuliert wollten sie sich selbst verwirklichen, sie erstrebten die Befreiung von Autoritäten. Eva war die erste Achtundsechzigerin, Adam, indem er seine Frau ganz freiheitlich machen ließ, der erste Liberale. Ich möchte damit nicht bezweifeln, dass es in allen Zeiten wohlmeinende Sozialisten und Liberale gegeben habe. Einem Friedrich Ebert oder einem Walther Rathenau wären derartige Geschmacklosigkeiten, wie sie heute auf der Linken zum guten Ton gehören, niemals eingefallen. Doch sowohl der Liberalismus als auch der Sozialismus verengen den Menschen letztlich aufs rein Materielle, auf materiellen Wohlstand, materielle Gleichheit, materielle Rechte; damit widersprechen sie nicht nur fundamental dem katholischen Glauben (wie diverse Päpste immer wieder klargestellt haben, besonders die Enzykliken Libertas Praestantissismum und Quod Apostolici Muneris von Leo XIII. zeigen die Fehler dieser Lehren hellsichtig auf), sondern sogar dem Licht der natürlichen Vernunft, leugnen sie doch zumindest die öffentlich-gesellschaftliche Bedeutung der aus der natürlichen Vernunft erkennbaren Existenz Gottes, indem sie alle religiösen Fragen als reine Privatsache auffassen und derartige Betrachtungen aus dem Reich der Politik und der Moral zu verbannen unternehmen.

Diese Verengung aufs Materielle ist letztlich fatal, nicht nur für die Religion, sondern gerade auch für die liberale oder sozialistische Ideologie selbst. Denn woher nimmt der Liberalismus seinen Wert der Freiheit, woher der Sozialismus sein Gleichheits- und Gerechtigkeitsideal, wenn nicht aus dem Sittengesetz der natürlichen Vernunft, welches aber eben nicht materiell zu begründen ist, sondern nur unter Rückgriff auf Naturzwecke (Teleologie im klassischen aristotelischen Sinne), welche seit Beginn der Moderne in der Philosophie systematisch geleugnet werden? Letztlich gibt es außerhalb des moralischen Gesetzes weder Freiheit noch Gleichheit, und erst recht keine Brüderlichkeit, da alle moralischen Werte letztlich aus diesem gemeinsamen Schatz stammen, wie C. S. Lewis in seinem kleinen, aber immens bedeutenden Buch „The Abolition of Man“ (deutscher Titel: Die Abschaffung des Menschen) überzeugend dargelegt hat.

Ohne Rückgriff auf diese Verankerung im natürlichen moralischen Gesetz verselbständigt sich die Freiheitsidee des Liberalismus, indem sie andere wesentliche Güter ignoriert, und wird daher zur Ideologie. Ähnlich, nur in noch schlimmerem Maße, verhält es sich mit dem Gleichheitsideal des Sozialismus. Ohne die Ergänzung durch konkurrierende Prinzipien führt diese Ideologie zu der Vorstellung, man müsse durch menschliche Macht alles „gleichmachen“ – Einkommen, Geschlecht, Bildung usw.

In beiden Fällen kann Dissens nur im Rahmen der Ideologie geduldet werden. Wer gar nicht im Sinne des Liberalismus „frei“, d.h. im Wesentlichen ein ungebundener, moralisch beliebiger Produzent oder Konsument sein will, der stört im Liberalismus. Es ist eine ganz natürliche Entwicklung, dass der Liberale früher oder später fordert, gesellschaftliche Traditionen zu bekämpfen, die zwar auf natürliche Weise und ohne staatlichen Zwang gewachsen sind, aber dem Ideal des Liberalismus entgegenstehen (wie etwa die Kirche und die traditionelle Familie mit Hierarchien und lebenslangen Treuebindungen). Der Mensch muss zu seiner „Freiheit“ gezwungen werden. Der Sozialismus ist eine wesentlich krudere und gefährlichere Ideologie, da Gleichheit viel weiter geht als nur Freiheit. Gleichheit ist absolut grenzenlos – es gibt immer noch mehr Eigenschaften, die man einebnen kann, und von Natur aus treten ständig neue Ungleichheiten auf, da die Menschen von Natur aus eben nicht gleich, sondern grundverschieden sind. Sozialismus ist daher eine besonders virulente Ideologie, die besonders stark zu Intoleranz gegenüber Abweichlern neigt, auch da ihr Ziel besonders unplausibel und widernatürlich ist. Nicht zwei Menschen, die es je gegeben hat, waren „gleich“, aber der Sozialismus will tendenziell die ganze Menschheit in eine amorphe Gleichheitsmasse umformen. Ein sozialplanerischer Zoo mit gleich großen Käfigen für alle.

Und wer nicht in diese Käfige will? Nun, der ist einer dieser ekelhaften Bremser, ein Volks- oder Klassenfeind, je nach Färbung des angestrebten sozialistischen Paradieses.

Nun ist die katholische Kirche nicht bloß das stärkste, sondern sogar beinahe das einzige verbliebene Gegengewicht gegen die Ideologien des Sozialismus und des Liberalismus im „modernen Westen“. Sozialismus und Liberalismus sind Geschwister, auch wenn sie sich zuweilen im stark beschränkten heutigen politischen Diskurs wie Gegner benehmen und sich zu Gegensätzen hochstilisieren. Und die einzige ernstzunehmende Institution, die bis heute entschlossen beide Irrlehren ablehnt, ist eben die katholische Kirche. Deswegen sind intelligente Liberale und Sozialisten sich ihres echten Gegners bewusst. Die Gefahr kommt sozusagen aus Rom.

Nun leben wir in einer Zeit, in der die jahrzehntelange Arbeit von Sozialisten und Liberalen Früchte getragen hat, und fast alle Menschen einer der beiden Ideologien anhängen – was durch unser Bildungssystem, die Hauptmedien, und besonders durch den Appell an die Todsünden Hochmut, Gier und Wollust sichergestellt worden ist. Deswegen können Liberale und Sozialisten ganz offen gegen die Kirche (und die Familie) kämpfen, denn es ist keine gesellschaftliche Strömung da, die stark genug wäre, die Ideologen an ihrem Zerstörungswerk zu hindern. Die nur noch von einer kleinen Minderheit unterstützte katholische Kirche ist also nicht nur das logische Hauptziel der Angriffe der Ideologen, sondern stellt auch noch ein besonders leicht angreifbares Ziel dar.

Das Resultat ist dann der Fall von Hemmschwellen, die bei früheren Generationen von liberalen und sozialistischen Politikern aufgrund ihrer Erziehung noch verankert waren, auch wenn es in ihren jeweiligen Ideologien keinerlei Rechtfertigung für sie gab. Doch solche Hemmschwellen sind ja durch die freie Erziehung, frei von Regeln, frei von Disziplin, frei von Strafen und frei von Vernunft, längst abgeschafft worden – schließlich wollte man ja die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern nicht mit so trivialen und altmodischen Vorstellungen wie Vernunft, Sittlichkeit, Wissen oder gar Wahrheit einschränken. So macht nun heute jeder seine eigenen Regeln, je nach subjektiv empfundenem Nutzen – mit bekannten Resultaten.

Die Intoleranz der „Papstgegner“ im Bundestag und anderswo hat aber neben der grundsätzlich unmoralischen ideologischen Basis der Kritiker und dem Verfall von Erziehung und Hemmschwellen in allen Bereichen noch einen viel tieferen philosophischen Grund, durch den der Begriff von der „Diktatur des Relativismus“ erst richtig erfüllt wird – es geht um die Leugnung absoluter Wahrheit. Gern wirft man den „Absolutisten“ vor, ihre starre Haltung sei die Ursache für Kriege und Terror. Doch wenn es ein absolutes moralisches Gesetz gibt, an das die Menschen gebunden sind, das sie erkennen und durch Vernunftgebrauch einsehen können, dann gibt es objektiv wahre Richtlinien, an denen man einzelne Handlungen messen kann. Erst durch die Existenz solcher objektiver moralischer Gesetze ist die Beurteilung einer Handlung als „verwerflich“ überhaupt erst möglich. Wenn sich ganz modern und freiheitlich jeder seine eigenen Regeln macht, wer kann ihm dann etwas vorwerfen, egal was er tut? Denn seine Taten befanden sich ja in Übereinstimmung mit dem von ihm anerkannten Wertesystem. Niemandes Taten können dann jemals als wirklich falsch angesehen werden – alles ist damit zulässig. Der moralische Relativismus ist damit nicht nur falsch, sondern zerstört sich selbst. Denn der Satz „es gibt keine objektive Wahrheit“ behauptet ja von sich selbst, objektiv wahr zu sein. Über diese elementaren Selbstwidersprüche hinaus führt er jedoch grundsätzlich zu einer langsamen Abstumpfung des Gewissens, das ja nun den Versuchungen nicht mehr das unbeugsame objektive moralische Gesetz entgegenzustellen vermag, sondern nur noch subjektive, von Person zu Person verschiedene, jederzeit veränderbare Prinzipien. Das Gewissen wird damit faktisch ausgeschaltet; bloß persönliche Präferenzen sind kaum in der Lage, starken Versuchungen lange zu widerstehen.

Auch objektive Moral kann natürlich missbraucht werden. Der Unterschied ist nur, dass solcher Missbrauch nach den eigenen Prinzipien falsch ist, während der Relativist einfach seine Moral ändern kann, wenn sich seine Präferenzen verändern.

In der Praxis sind nicht alle sittlich verrohten Menschen Relativisten und nicht alle Relativisten sittlich verroht. Aber das aus dem moralischen Relativismus entstehende gesellschaftliche Klima der sittlichen Beliebigkeit, das mehr und mehr die westlichen Gesellschaften erobert, begünstigt sittliche Verrohung nicht nur aus den hier aufgeführten Gründen, sondern auch noch auf andere Weise, etwa durch den Zerfall von Bindungen an traditionelle Institutionen wie die Kirche und die Familie, was ich im Detail anderswo behanden werde.

Abschließend kann man festhalten, dass die heute herrschende gesellschaftliche Sittenlosigkeit, der Fall von noch vor kurzem als selbstverständlich betrachteten Hemmschwellen, nicht zur Entstehung der von Erzbischof Woelki beklagten Intoleranz geführt hat, sondern ihr nur zum hemmungslosen Durchbruch verhilft. Die Intoleranz selbst wird aber vom moralischen Relativismus verstärkt, da erstens Toleranz selbst vom Relativismus auch wieder nur als relativ begriffen werden kann, und zweitens da durch den Wegfall objektiver moralischer Gesetze das Gewissen entmachtet und durch flackernde persönliche Vorlieben ersetzt werden. Und wenn eine der Vorlieben eben eine Abneigung gegen die Kirche ist, dann wird man auch diese ausleben.

Erzbischof Woelki beklagt zurecht die dem Papst entgegengebrachte Intoleranz, und er wird noch erleben, dass diese sich auch gegen ihn richtet, sobald er erstmals die Lehre der Kirche wahrnehmbar in der Öffentlichkeit vertritt. Wenn sich die aktuellen gesellschaftlichen Trendlinien fortsetzen, woran ich nicht zweifle, wird diese Intoleranz noch stärker werden, und sich vielleicht irgendwann einmal in Gewaltausbrüchen gegen Menschen statt gegen Sachen oder den allgemeinen Anstand niederschlagen. Verwundern würde es jedenfalls nicht.