Der Götzendienst der Wissenschaft (Teil 2 von 7)

2. „Sozialwissenschaft“ als Ideologie

Den Menschen kann man nur als Ganzheit von Leib und Seele verstehen. Wenn die modernen Sozialwissenschaften, Erziehungswissenschaften, Psychologie, aber auch die Ökonomie (außerhalb streng ökonometrischer Erfassung wirtschaftlicher Daten), uns die Ergebnisse ihrer Studien als „Erkenntnisse“ oder „Wissen“ verkaufen, dann können sie diesen Anspruch nur selten erfüllen. Alasdair MacIntyre schreibt darüber, geradezu am Rande, aber dennoch sehr instruktiv, in seinem hauptsächlich moralphilosophischen Werk „After Virtue“, besonders im 7. und 8. Kapitel, wobei er sich auf die empirisch feststellbare Abwesenheit verlässlicher Ergebnisse im Felde der Sozialwissenschaften konzentriert, ohne den grundsätzlicheren Einwand zu erheben, den ich hier formuliert habe.

Weil es an einer Methode mangelt, mit der der Mensch als Leib-Seele-Ganzheit auch nur wahrgenommen wird, sind die Ergebnisse dieser Wissenschaften notwendigerweise nicht allzu ergiebig. So wie jemand, der versucht, mit einer Gabel Suppe zu essen, sich nicht zu wundern braucht, wenn das nicht richtig funktioniert. Es landet vielleicht etwas Suppe auf der Gabel, so wie auch der Sozialwissenschaftlicher manchmal auf richtige Ergebnisse stößt. Doch zumeist findet er entweder triviale Wahrheiten (wie dass Mann und Frau verschieden sind), für deren Erkenntnis man seine Studien nicht gebraucht hätte, oder absurde Unwahrheiten (wie dass Mann und Frau gleich wären), die auch durch seine Studien nicht wahrer werden.

Die wichtige Einsicht ist, dass man diesen Studien überhaupt kein Vertrauen zu schenken braucht, weil dahinter zwar ausgefeilte Methoden stehen, die jedoch, so ausgefeilt sie auch sein mögen, schon prinzipiell nicht geeignet sind, den Menschen als Leib-Seele-Ganzheit auch nur wahrzunehmen. Wer Mikroorganismen mit bloßem Auge untersucht, wird keine finden. Er braucht ein Mikroskop. Wenn besagter Biologe uns nun erklärte, seine Untersuchungen hätten gezeigt, es gäbe keine Mikroorganismen, wäre ein Lachanfall gerechtfertigt, wenn auch vielleicht nicht gerade höflich. Wir würden niemandem glauben, der uns erklärt, er habe tausend Menschen angeschaut und viele erbauliche Gespräche mit ihnen geführt, und nie eine Lunge gesehen, und dies als Indiz dafür anführte, dass Menschen keine Lunge hätten. So ist es auch mit den Studien der Sozialwissenschaftler. Sie untersuchen den Menschen und die Gesellschaft (also viele Menschen, die strukturiert zusammenleben) mit einem Instrumentarium, das den Menschen in seinem wesentlichen Merkmal gar nicht erfassen kann. Da sie den Untersuchungsgegenstand nicht wirklich untersuchen können, hängen die Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Studien hauptsächlich von den Vorurteilen der Wissenschaftler ab, die sie produzieren, und von den Geldgebern, die sie bezahlen.

„Glaube keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast“, lautet ein etwas plumper Satz, der eine verwandte Aussage macht, nämlich dass man die meisten sozialen Tatbestände statistisch so darstellen kann, dass sie beim Leser ideologisch richtig gefiltert ankommen. Meist handelt es sich dabei gar nicht um bewusste Fälschungen; es geschieht ganz unbewusst, aufgrund der natürlichen Tendenz von Menschen, zu sehen was sie sehen wollen.

Ein feministischer Soziologe wird also „herausfinden“, dass Mann und Frau gleich sind, und die linksliberalen Medien werden sich über die Ergebnisse stürzen als „Beweis“ für die Richtigkeit ihres Egalitarismus. Er wird auch „wissenschaftlich“ bestätigen können, dass Frauen glücklicher sind, wenn sie sich in Lohnsklaverei verdingen, und dass es Kindern in Krippen weit besser geht als bei ihren eigenen Eltern. Er kann ein langes Lied davon singen, alles „wissenschaftlich“ untermauert, mit mehr als 834 unabhängigen Studien, dass Kinder in homosexuellen Lebensgemeinschaften genauso gut aufwachsen wie in traditionellen Familien. Sein ebenso feministischer Kollege aus der Psychologie wird bestätigen, dass die traditionelle Familie für den autoritären Charakter verantwortlich ist, und deshalb zu Hitler und Ausschwitz geführt habe, und dass, wie Freud das ausdrückte, das Christentum eine Art Geisteskrankheit ist. Und alle diese Aussagen sind „wissenschaftlich oftmals bestätigt“.

Ein christlicher Soziologe und sein ebenso christlicher Psychologenkollege können sich ebenfalls „wissenschaftlich“ mit den genannten Themen auseinandersetzen. Sie werden herausfinden, dass Kinder am besten bei ihren Eltern aufwachsen, dass Frauen eigentlich doch ziemlich traditionelle Ansichten haben, dass Kinder, die in homosexuellen Beziehungen, bei Alleinerziehenden oder in vergleichbaren Verhältnissen aufwachsen, überdurchschnittlich oft Opfer sexuellen und anderen Missbrauchs werden, weitaus schlechtere Bildungschancen haben und vieles mehr, als vergleichbare Kinder aus traditionellen Familien. Sie können feststellen, dass christliche Menschen länger leben, einen ausgeglicheneren Charakter und viele andere Vorzüge haben, die ganz sicher das nächste Ausschwitz verhindern würden, so wie sie das letzte nicht verhindert haben.

Soziologen, Psychologen, Erziehungswissenschaftler mit noch anderen Ansichten werden zu noch anderen Ergebnissen kommen. Das funktioniert ja sogar in der noch relativ empirisch-naturwissenschaftlichen Klimatologie (wo die Studien der Umweltschützer und an globaler Macht interessierten Regierungen behaupten, der Klimawandel sei vom Menschen gemacht, während die Interessengruppen der anderen Seite ebenso wissenschaftlich herauszufinden glauben, der Klimawandel sei auf natürliche Faktoren zurückzufügen und in der Summe gar kein großes Problem). Es funktioniert erst recht in den „weichen“ Wissenschaften vom Menschen.

Aufgrund der Studienschwemme kann man nicht sagen, welche Position richtig ist. Der Feminist wird sich durch einen riesigen Haufen Studien und Untersuchungen aller Fachrichtungen bestätigt fühlen; der traditionelle Christ wird auch genug Studien finden, an denen er sich hochziehen kann, wenn ihm danach ist. Es gibt mehr pro-feministische Studien, weil es mehr pro-feministische Wissenschaftler an der säkularen Hochschule gibt, und weil sowohl Arbeitnehmer- als auch Arbeitgeberverbände ebenso wie die Regierung und alle wesentlichen Oppositionsgruppen die feministische Position unterstützen – manche aus Ideologie, andere aus einfacher ökonomischer Kalkulation. Doch Wahrheit und Mehrheit sind, das sagt schon der Untertitel des Blogs Kreuzfährten, von dem ausnahmslos alle Leser dieser Zeilen schon mindestens einmal gehört haben dürften, zwei völlig verschiedene und oft entgegengesetzte Dinge.

Der Götzendienst der Wissenschaft (Teil 1 von 7)

1. Von den verschiedenen Wissenschaften

Oft wird gesagt, man müsse dieses oder jenes ändern oder abschaffen, weil die Wissenschaft dies so empfehle. Wir sollen unsere Kinder jetzt anders erziehen, weil irgendwelche meist kinderlosen Sozialpädagogen bedeutungsschwangere Studien durchgeführt haben, nach denen Kinder angeblich besser aufwachsen, wenn die Erziehung sich zufälligerweise am gerade herrschenden Paradigma orientiert. Welches Paradigma das ist, hängt von der Zeit ab, in der die Studie verfasst wird, und dem gesellschaftlichen Klima, in dem der die Studie verfassende „Wissenschaftler“ lebt.

Ebenso funktioniert das in jeder „Sozialwissenschaft“, oder, genauer gesagt, in jeder Wissenschaft, die als Gegenstand den Menschen als Menschen (nicht als bloßes materielles Ding, sondern in seiner Eigenschaft als Mensch) hat. Sobald man nicht mehr nur betrachtet, wie bestimmte physikalische Teilchen miteinander interagieren, sondern die Betrachtung auf Menschen ausdehnt, hat man es nicht mehr mit Wissenschaft im strengen Sinne zu tun. Physikalische Experimente können wiederholt werden. Sie laufen unter streng kontrollierten Bedingungen ab, die jederzeit in entsprechenden Laboren reproduziert werden können. Es gelten bestimmte mathematische Gesetze bei der Bildung physikalischer Theorien. Wissenschaften, die nach diesem Paradigma funktionieren, können uns Erkenntnisse liefern, die nicht (oder nur in sehr geringem Maße) von den Vorurteilen des Wissenschaftlers abhängen. (Obwohl die Neutralität selbst der Naturwissenschaften wissenschaftstheoretisch sehr umstritten ist.)

Doch die Sozialwissenschaften sind in diesem strengen Sinn keine Wissenschaften. Ihr Gegenstand ist der Mensch oder der Mensch in Gesellschaft, was aufgrund der Sozialnatur des Menschen letztlich dasselbe ist, nur unter einem anderen Gesichtspunkt.  Doch der Mensch hat freien Willen. Er trifft Entscheidungen, die weder physikalisch determiniert sind, noch ausschließlich ansozialisiert wurden. In ihm gibt es komplexe Wechselwirkungen zwischen natürlichen Voraussetzungen, gesellschaftlichen Erwartungen, internalisierten Vorstellungen und dem letztlich freien Willen. Diese Wechselwirkungen sind sozialwissenschaftlicher Erkenntnis prinzipiell nicht zugänglich. In „That Hideous Strength“ lässt C.S. Lewis den Chemiker Hingest sagen: „You can’t study men; you can only get to know them, which is quite a different thing.“ („Man kann Menschen nicht studieren, man kann sie nur kennenlernen, was etwas völlig anderes ist.“)

Lewis hat hier, wie meistens, eine tiefe Einsicht auf den Punkt gebracht. Das, was im modernen Sinn des Wortes als Wissenschaft gelten kann, vermag den Menschen als Menschen nicht zu studieren, weil ihr das Wesentliche entgeht. Materielle Wissenschaft kann den Menschen nicht erfassen, weil der Mensch nicht nur Materie ist, sondern auch Geist; weil im Menschen Materie und Geist eng und untrennbar zusammenwirken. Der Mensch ist beseelt, anders als das Elementarteilchen. Die Seele, aristotelisch gesprochen die Form des Körpers, kann nicht vom Menschen getrennt werden (außer durch den Tod). Doch die materielle Wissenschaft kann die Seele nicht sehen, weil sie nur Materie untersuchen kann.

Um den Menschen mit wissenschaftlichem Anspruch zu untersuchen, benötigt man ein anderes, nämlich ein geistiges Instrumentarium. Und damit kommen wir zu den sogenannten Geisteswissenschaften. Im Kontext der säkularen Hochschule sind sie weitgehend deformiert und kaum noch als solche zu erkennen, weil sie sich dem modernen wissenschaftlichen Paradigma ihren Wesensgehalt aufgebend auf der Jagd nach wirtschaftlichem Nutzwert angepasst haben, um überhaupt überleben zu können. Sie führen ein erbärmliches Schattendasein. Die faktische Apostasie eines guten Teils der universitären Theologie ist nur Teil eines breiteren Phänomens, das den Niedergang aller Geisteswissenschaften umfasst. Diese Wissenschaften haben das Instrumentarium, nämlich vornehmlich den menschlichen Geist, um etwas über den Menschen als beseeltes Lebewesen herausfinden zu können. Doch sie sind im modernen Sinn keine Wissenschaften, da sie weder empirisch noch formal mathematisch oder formal logisch vorgehen. Sie sind „nur“ in einem älteren Sinne „Wissenschaft“. Sie stellen einen geordneten Korpus von Wissen dar, doch er wurde nicht nach der modernen wissenschaftlichen Methode gewonnen, sondern durch die Verwendung des menschlichen Geistes etwa in Form philosophischer Reflektion.

Mut zum Patriarchat

Wir leben in der „vaterlosen“ Gesellschaft. Wenn es ein Merkmal gibt, das unsere moderne, westliche Gesellschaft sowohl von ihrem Wesen her als auch in vielen ihrer individuellen Ausprägungen treffend zu charakterisieren vermag, dann ist es wohl die Vaterlosigkeit.

Wir haben uns seit der Französischen Revolution von der Monarchie als normaler Staatsform verabschiedet. Die noch verbliebenen europäischen Monarchen sind eigentlich Aushängeschilder ohne echte politische Macht. Sie hängen von der Gnade gewählter Parlamentarier ab, die sie jederzeit endgültig abschaffen könnten, wenn ihnen gerade danach wäre. Wir haben die Könige praktisch kastriert, wenn wir sie nicht gerade im Eifer aufklärerischer Befreiung aufgeknüpft, oder, nach dem berühmten Vorschlag des Voltaire*, mit den Innereien des letzten Priesters erdrosselt haben. Der Fachbegriff dafür ist Demokratisierung.

Der Kampf gegen den Vater als Haupt der Familie ist durch den modernen Feminismus weitgehend erfolgreich abgeschlossen worden. Der Sirenengesang der Ideologie hat Millionen Frauen dazu verführt, mehr ihrer „Selbstverwirklichung“ nachzuhängen, als ihrer unverzichtbaren Rolle als Herz ihrer Familie. Zugleich ist durch den innerfamiliären Egalitarismus eine Generation von Männern herangezogen worden, die ihre Rolle als Haupt der Familie, als echter Vater, gar nicht mehr wahrnehmen kann, weil ihr dazu die charakterliche Stärke fehlt. Die traditionelle Familie ist längst kein Leitmodell mehr; in vielen Landesteilen hat sie bereits den Charakter einer ungeliebten Seltsamkeit. Der Vater ist höchstens noch eine Lachfigur. Immer mehr Kinder wachsen, mit teils schwerwiegenden Folgen, ohne Vater auf.

Auch in der Kirche ist der Vater nicht mehr Gegenstand hohen Ansehens. Väter gibt es in der Kirche viele – angefangen beim Heiligen Vater. Aber auch der einfache Pfarrer oder Pastor ist durch seinen priesterlichen Dienst der geistliche Vater seiner Gemeinde. Die katholische Kirche hat kaum noch priesterliche Berufungen. Viele Priester beschäftigen sich lieber mit Ungehorsamsaufrufen, statt sich um das Wohl ihrer geistlichen Kinder zu kümmern. In der breiteren Gesellschaft, aber auch unter Katholiken, ist eine Mischung aus Gleichgültigkeit und Feindseligkeit gegenüber Priestern längst hoffähig geworden. Die Rolle der Priester soll immer weiter eingeschränkt werden. Laien, auch Frauen, sollen viele der Tätigkeiten übernommen, die traditionell Klerikern, geistlichen Vätern, vorbehalten waren. Selbst die Gemeindeleitung wird inzwischen zunehmend von Laien übernommen, weil es an Priestern mangelt, aber auch weil die Ideologie es so will.

Über aller Vaterlosigkeit der modernen Gesellschaft steht als Wurzel des Übels die eine Vaterlosigkeit, von der alle weltliche Vaterlosigkeit ihren Namen hat: Die Abwesenheit Gottes, sozusagen des ultimativen Vaters, in den Herzen der Menschen. Nicht, dass die Mehrheit überhaupt nicht mehr an Gott glauben würde – weit gefehlt. Umfragen zeigen immer wieder, dass die meisten Menschen an irgendwelche schattenhaft vorgestellten übernatürlichen Wesenheiten glauben, und immer noch mehr als 50% bringen diese diffusen Vorstellungen in Verbindung mit dem Wort „Gott“. Doch der christliche Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist, ist dem modernen Menschen definitiv zuviel.

Dabei ist auffällig, dass der Sohn, Jesus Christus, immer noch eine gewisse sentimentale Zuneigung hervorruft. Selten wird er abgelehnt, meist möchte man ihn eher vereinnahmen. Als netten Menschen ist man bereit ihn zu tolerieren, solange er sich wohlfeil verhält, und nicht aus der Rolle fällt. Auch der Heilige Geist ist nicht allzu unpopulär. Aber der Vater? Der mit den ganzen Geboten? Der, von dem alle Autorität auf Erden stammt?

Die moderne westliche Gesellschaft flüchtet vor dem Himmlischen Vater und allen kleinen, weltlichen, irdischen Vätern, die einen winzigen Teil seiner Vaterschaft übertragen bekommen haben. Sie führt einen Stellvertreterkrieg gegen echte, starke Väter in Politik, Gesellschaft und Familie, weil wir an den einzig wahren Vater nicht herankommen. Wir spucken auf die Abbilder, weil das Urbild unerreichbar ist.

In dieser Situation braucht der Christ „Mut zum Patriarchat“. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bezeichnet die Herrschaft des Vaters. Die ganze Schöpfung ist ein riesiges Patriarchat: Gott-Vater hat sie geschaffen und er regiert sie bis heute, auch wenn die Menschen gegen ihn rebelliert haben und dies mit Freuden immer noch tun.

Auch die Kirche ist ein Patriarchat. Das wahre Oberhaupt der Kirche ist der himmlische Vater. Der bis in den Tod gehorsame Sohn hat sie gestiftet, und alles was der Sohn tut, kommt vom Vater. Vom Sohn hat Petrus, der Fels, die Leitung der Kirche übertragen bekommen. Bis heute ist das sichtbare Oberhaupt der Kirche der geistliche Vater aller Katholiken und sie sind gerufen, der legitimen Autorität dieses Vaters zu gehorchen. Die Kirche ist keine egalitäre, sondern eine patriarchalische Institution.

Das ist kein Vorwurf, sondern ein Kompliment.

Dasselbe gilt für die Familie. Auch sie ist nicht egalitär, sondern patriarchalisch. Auch in ihr ist der Vater das Haupt. Er vertritt mit seiner väterlichen Autorität die väterliche Autorität Gottes. Die Familie ist bekanntlich immer auch eine kleine Kirche (ecclesiola) und wie in der „großen“ Kirche gibt es in ihr geistliche Autorität, Hierarchie und Leitung.

Auch das ist kein Vorwurf, sondern ein Kompliment.

Im Staat ist prinzipiell auch eine demokratische Regierungsform legitim; es gibt hierzu keine verbindliche lehramtliche Festlegung. Trotzdem kann man wohl kaum leugnen, zumindest als Ideal, dass der katholische Monarch eine Figur ist, die sehr gut in die hier beschriebene patriarchalische Ordnung passt. So wie der göttliche Vater seine Schöpfung und der Heilige Vater seine Kirche und der Familienvater seine Familie zu leiten hat, so obliegt auch dem katholischen Monarchen die Leitung seines Volkes. Das Ausmaß der Autorität, und ihre jeweils konkrete Ausprägung variiert natürlich mit den Aufgaben, die ihr übertragen sind, doch immer bleibt es eine Autorität, und nie ist diese Autorität unpersönlich-neutral, sondern persönlich, väterlich, nach dem Bilde Gottes.

Alle Autorität kommt von Gott – man kann sie missbrauchen, doch selbst dann kommt sie noch von Gott. Selbst wenn man dem Träger dieser Autorität aufgrund des Missbrauchs den Gehorsam verweigern muss. Und weil sie von Gott kommt, und weil Gott Vater ist, ist Autorität ihrer Natur nach väterlich. Deswegen spricht man ja auch von „Herrschaft„. Selbst die Feministen sprechen nicht von „Frauschaft“ oder „Damenschaft“.

Nun ist es ein ganz besonderes christliches Faktum, dass jede Herrschaft immer eigentlich Dienst ist. Gott ist hier wieder das Urbild. Wir, seine Geschöpfe, sündigen, beleidigen und verhöhnen ihn. Und was tut er? Ja, er straft uns. Er ist ein gerechter Gott, und Strafe muss sein. Doch er tut mehr. Er schickt seinen eigenen Sohn. Gott selbst nimmt Menschengestalt an, demütigt sich, entäußert sich, lässt sich zu Tode foltern und ans Kreuz schlagen, besiegt den Tod und öffnet uns den Weg zurück zu ihm. Er ist der Herr. Doch als guter Herr opfert er sich für seine Diener.

Weil alle Autorität väterlich ist und von Gott kommt, ist jeder Vater, jeder, der Autorität hat, dazu gerufen, sich ebenso zu verhalten. Auch er soll sich hingeben für seine „Diener“. Auch er soll nicht um seines eigenen Vorteils willen herrschen, sondern für die seiner Herrschaft oder Autorität anvertrauten Personen. Auch er soll sich demütigen und entäußern, wenn sich dies als notwendig erweist.

So ist ein Christliches Patriarchat nicht einfach die Herrschaft der Väter, sondern auch die Herrschaft der Diener.

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* Anmerkung: Ich wurde in einem Kommentar darüber aufgeklärt, dass der Satz ursprünglich gar nicht von Voltaire stammt, sondern von einem katholischen Priester (!) namens Jean Meslier, der materialistische und atheistische Religionskritik schrieb. Anscheinend ändern sich die Zeiten nie… Solche Priester hatten wir schon immer.

Von der „relativen“ Armut Deutschlands

Als ich mir am vergangenen Sonntag eine SPD-Parteitagsrede Predigt zum Thema Caritas und Soziale Gerechtigkeit anhören durfte, ertappte ich mich dabei, wie mir die Melodie der „Internationalen“ durch den Kopf ging. Irgendwie passte die Melodie ganz gut zur Predigt.

Soziale Gerechtigkeit, so nahm der Laie an diesem Sonntag mit nach Hause, ist hauptsächlich über real existierende statistische Gleichheit hinsichtlich ökonomischer Maßzahlen zu definieren. Diese statistische, ökonomische Gleichheit soll durch staatliche Umverteilung erreicht werden, und wer dagegen aufbegehrt, ist unsozial und unchristlich. Natürlich kann und soll auch nach Auffassung des Diakons, der die Predigt gehalten hat, zusätzlich zur staatlichen Umverteilung noch so etwas wie nachbarschaftliche Hilfe stattfinden, aber selbst diese wurde nahezu ausschließlich im Kontext institutionalisierter katholischer Sozialverbände gesehen.

Von einem einzigen Satz abgesehen wurde nicht-institutionelle, unbürokratische Hilfe überhaupt nicht angesprochen.

Das Problem „soziale Gerechtigkeit“ kam im Kontext der Armutsdiskussion auf. Ein schrecklich hoher Prozentsatz der Deutschen gilt ja bekanntlich als arm. Und Armut macht krank, Armut tötet, reduziert die Partizipation am Bildungswesen usw. Die Armut, so die Aussage der Predigt, müsse unbedingt bekämpft werden. Der Diakon schilderte freundlicherweise, wie schrecklich Armut sein kann. Wenn die Menschen nicht genug zu essen haben, wenn sie kein Obdach haben und im Winter erfrieren müssen, und wenn der Zugang zu ganz elementarer medizinischer Versorgung fehlt.

Dass diesen Menschen unbedingt geholfen werden muss, und dass dies in einer weitgehend heidnischen Gesellschaft wohl nur durch staatliche Hilfe funktionieren wird, dürfte unstrittig sein.

Nur sollte man nicht vergessen – wie es in der Predigt leider geschah – dass diese Form existenzieller Armut etwas ganz anderes ist, als die „Armut“, von der in Deutschland über 15% der Menschen betroffen sind.

Das ist der Unterschied zwischen „absoluter“ und „relativer“ Armut. Absolute Armut liegt vor, wenn jemand nicht satt wird, kein Obdach hat oder an einfach heilbaren Krankheiten stirbt, weil er sich die Behandlung nicht leisten kann. Solche absolute Armut ist in der Welt extrem verbreitet, aber in Deutschland, dieser Insel des ökonomischen Reichtums, ist sie glücklicherweise sehr selten. Relative Armut ist eine statistische Maßzahl, die am Durchschnittseinkommen gemessen wird. Wer weniger als z.B. 60% des Durchschnittseinkommens (Medianeinkommens) verdient, der gilt als arm. Und zwar unabhängig davon, ob das Durchschnittseinkommen in einem Land bei 50 oder 5000 Euro im Monat liegt.

Wer in Deutschland in den Armutsstatistiken auftaucht, der hat weniger als einen bestimmten Prozentsatz des Durchschnittseinkommens. Die Armut, die von den Armutsstatistiken gemessen wird, wäre in fast allen nicht-westlichen Ländern gar keine Armut, sondern Reichtum (und zwar auch hinsichtlich der realen Kaufkraft), weil in diesen Ländern das Durchschnittseinkommen weitaus niedriger ist.

Es gebe in Deutschland immer mehr Armut, hört man ständig in den Medien. Immer mehr Menschen seien arm. Doch wenn der normale Mensch das Wort „Armut“ hört, dann hat er existenzielle Armut vor Augen, dann sieht er hungernde Kinder vor sich.

Doch das ist nicht das reale Bild der Armut in Deutschland. Arme Kinder leiden überdurchschnittlich häufig an Überernährung, nicht Unterernährung, haben in der Regel ein Telefon, einen Fernseher, und mehrheitlich auch einen Computer zu Hause. Die Eltern haben ein Auto, wenn auch vielleicht ein älteres. Sie haben eine Wohnung, die ihren Großeltern luxuriös vorgekommen wäre. Diese Menschen gelten in Deutschland aber als arm, weil der Rest der Gesellschaft eben noch reicher ist. Sie sind „relativ“ zu ihren Mitbürgern arm, aber absolut gesehen, sowohl im geographischen als auch historischen Vergleich, sind sie eher wohlhabend. (Aus christlicher Perspektive könnte man auch kritisieren, dass die Gesellschaft einen solchen Zustand materieller Überversorgung noch als Armut begreift, und dadurch ihre eigene Anhänglichkeit an den Mammon-Kult offenbart.)

Diese Art „relativer“ Armut, auch das sollte nicht unterschlagen werden, ist tatsächlich eher die Folge des Wohlfahrtsstaates. Wenn er halbwegs funktioniert, wird der Wohlfahrtsstaat in einem reichen Land existenzielle Armut so weit reduzieren, dass sie zu einem Randphänomen wird, das nur wenige Menschen betrifft, und statistisch gar nicht mehr erfasst werden kann. Was übrigbleibt, sind die Menschen, die zwar absolut gesehen nicht arm sind, die aber vergleichen mit ihren Mitbürgern einen unterdurchschnittlichen Verdienst aufweisen.

Diese Art Armut kann man nur bekämpfen, indem man dafür sorgt, dass sich reale Leistungsunterschiede nicht mehr in realen Einkommensunterschieden niederschlagen dürfen. Denn ansonsten wird es immer Menschen geben, die vergleichen mit ihren Mitmenschen schlechter abschneiden und daher einfach nicht so viel Geld verdienen. Es ist nun einmal eine Tatsache, dass Menschen nicht gleich sind, sondern äußerst verschieden, und das gilt auch hinsichtlich aller Faktoren, die für ökonomischen Erfolg entscheidend sind: Glück, Fleiß, Talent, Leistungsbereitschaft, die richtigen Kontakte… Alle diese Güter sind unterschiedlich verteilt, und kein noch so „sozial gerechter“ Staat kann das ändern, weil er die Menschen nicht ändern kann. (Und was passiert, wenn der Staat den Menschen doch zu verändern versucht, kann man in allen totalitären Diktaturen sehen. Ich hoffe, dass unsere wohlmeinenden „sozial gerechten“ Umverteilungsapostel in Staat und Kirche vor der Aufrichtung eines solchen Systems zurückschrecken werden, selbst wenn das die Aufgabe ihres Gleichmachungsziels bedeutet.)

„Relative Armut“ ist in jeder Gesellschaft gegeben. Und es kann sogar sein, dass relative Armut steigt, wenn alle Menschen reicher werden. Wenn nämlich das Durchschnittseinkommen um 10% steigt, und sich zugleich das Einkommen in unteren sozialen Schichten nur um 5% erhöht, dann sind zwar alle „absolut“ reicher geworden, aber „relativ“ hat sich die Armut erhöht, und die Druckerpressen können wieder anlaufen und apodiktisch verkündigen, dass „die Armen ärmer und die Reichen reicher“ werden und die „Schere zwischen Arm und Reich“ immer weiter anwächst.

Ja, natürlich. Aber trotzdem sind alle reicher geworden, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Das, was der heutige Hartz-IV-Empfänger (kaufkraftäquivalent) zur Verfügung hat, kann sich verglichen mit dem Lohn eines einfachen kleinbürgerlichen Arbeitnehmers aus den 50er und 60er-Jahren durchaus sehen lassen. Der kleinbürgerliche, abgesicherte Arbeitnehmer aus der Generation meines Großvaters hatte nicht mehr als der heutige Hartz-IV-Empfänger.

Der entscheidende Unterschied ist: Er wusste damit besser umzugehen.

Worin bestehen diese Unterschiede? Er wusste sparsam zu wirtschaften. Er hatte in der Regel eine Ehefrau (und nur eine!) zu versorgen, und im Schnitt drei Kinder. Er hat fünf Personen von diesem einen Einkommen ernährt, weil er sparsam war. Er hatte keine unrealistischen Erwartungen; er wusste, dass jemand, der einen einfachen Job hatte, keine großen Sprünge erwarten durfte. Er versagte sich und seiner Familie daher jeglichen überflüssigen Luxus, nicht als Asket, sondern als rationaler Hedonist. Er war sparsam, um sich dann später, kalkuliert, wenn es Sinn machte, etwas leisten zu können.

Wenn unsere heutigen Deutschen nach einem Krieg alles wieder aufbauen müssten, würde ihnen nichts besseres einfallen, als Transparente zu greifen und für mehr staatliche Hilfen zu demonstrieren. Und in vollkommener Frustration irgendetwas von der „Schere zwischen Arm und Reich“ zu schwafeln, wenn der Staat ihnen ihre zerbombten Häuser  nicht innerhalb von sechs Monaten größer und besser wieder aufbaut.

Die „relative Armut“ in Deutschland mag größer sein als vor 50 Jahren. Doch das bedeutet nur, dass das Durchschnittseinkommen, an dem „relative Armut“ gemessen wird, gestiegen ist.

Wenn diese Armut für viele Betroffene heute stärker fühlbar ist, als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war, dann hat das nichts mit ökonomischen Maßzahlen zu tun, sondern damit, dass die Stützpfeiler einer Gesellschaft (Familie, Nachbarschaftlichkeit, Gemeindesolidarität, freiwillige „mittlere“ Institutionen aller Art usw.) durch eine gezielte, als „Fortschritt“ verkaufte politisch-kulturelle Revolution, systematisch gesprengt worden sind; mit allen Auswirkungen auf die soziale Sicherheit, aber auch die Charakterbildung, die so eine Revolution hat.

Als Folge davon haben wir heute eine wachsende Anzahl Bürger, die ganz einfach unfähig sind, ein sparsames, kleinbürgerliches Leben an dem sozialen Ort, den manche Sozialforscher untere Mittelschicht nennen möchten, zu führen, weil ihnen schlicht die Tugenden – ja, Tugenden! – fehlen, um aus wenigen Ressourcen und einer nicht idealen sozialen Position das beste zu machen.

Es sind die bekannten, viel kritisierten bürgerlichen Tugenden wie Disziplin, Sparsamkeit, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Bescheidenheit und Aufrichtigkeit, die aus „bitterer, relativer Armut“ eine anständige, respektable Existenz zu machen fähig sind. Und diese Tugenden lernt man eben nur durch Übung, indem man sie immer wieder nachahmt. Normalerweise geschieht dies in der Familie.

So kann es nicht verwundern, dass selbst die „relative“ Kinderarmut unter Kindern, die einen Vater und eine Mutter haben, die verheiratet sind, und von denen mindestens einer berufstätig ist, etwa bei 2% liegt, während fast die Hälfte der Kinder von „Alleinerziehenden“ unterhalb der ominösen „Armutsschwelle“ liegen.

Doch darüber herrscht auf den Kanzeln das große Schweigen, denn man will ja niemandem auf die Füße treten. Am Ende tritt so jemand noch aus der Kirche aus und verkleinert dadurch die steuerlichen Pfründe, auf denen sich die säkularisierte, modernistische Schattenkirche ausruht.

Dabei hat die Kirche doch eine so große Soziallehre, die leider immer mehr in Vergessenheit gerät, weil die offiziellen Vertreter der Kirche sie durch weichgespülten Sozialismus ersetzen.

Wahlkampf in Amerika

In etwa zwei Monaten werden die Wähler in den USA darüber entscheiden, ob Barack Obama vier weitere Jahre im Weißen Haus wohnen darf, oder ob dort Mitt Romney einzieht. Es handelt sich dabei wohl um die heißeste Wohnortdebatte der Welt, denn um Inhalte ging es eigentlich leider kaum. Der Hund von Mitt Romney nahm mehr Raum im Wahlkampf ein, als die enormen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten, vor denen die USA stehen. Mit der Auswahl Paul Ryans, eines katholischen Abgeordneten des Repräsentantenhauses aus Wisconsin, so war erwartet worden, würde sich dies nun ändern. Denn Ryan gilt nicht nur als konservativer Kontrast zu Obama, sondern hat auch einen konkreten Plan zur Bekämpfung des Haushaltsdefizits vorgelegt. Inhaltlich, so scheint es, hat sich Romney damit ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt, denn jegliche Reform des Sozialsystems löst in den USA – ebenso wie in Europa – immer heftige polemische Anwürfe von links aus.

Doch wer nunmehr einen inhaltlich bedeutsamen Wahlkampf erwartet hatte, der wurde spätestens bei dem Parteitag der Republikaner in der vergangenen Woche mächtig enttäuscht. Es war die übliche Mischung von Party, inhaltslosen Floskeln und persönlichen Angriffen gegen den Amtsinhaber. In etwa dasselbe, was auch von den Demokraten bei ihrem Parteitag in der nächsten Woche zu erwarten ist.

Wie immer werden diese Shows für einige Tagen die Umfragewerte bewegen, bevor sich das alles wieder normalisiert. Die Kandidaten werden weiterhin Kopf an Kopf liegen.

Viel interessanter als das vordergründige Posieren der beiden Parteien und ihrer Kandidaten als der einzige, der das Land nicht zugrunde richten wird, ist jedoch das, was sich hinter den alltäglichen politischen Trends verbirgt. Interessant ist nicht das politische Wetter, sondern das politische Klima, jene langfristigen Entwicklungen, die sich nicht in Umfragen, Wahlreden und Kurzinterviews niederschlagen, die aber das Fenster des erlaubten Diskurses zu verschieben vermögen.

Grundsätzlich gibt es immer eine gewisse Spannbreite erlaubter Positionen, außerhalb derer sich niemand stellen kann, wenn er überhaupt noch Wahlchancen haben möchte. Ebenso darf man dieses Fenster nicht verlassen, wenn man nicht das Opfer gesellschaftlicher – oder zuweilen sogar strafrechtlicher – Sanktionen werden möchte. Dies sieht man etwa am Beispiel der Holocaustleugnung in Deutschland oder dem Schicksal der antichristlichen Punk-Bande, die ihren blasphemischen Unfug in Russland zu treiben versucht hat. Wer sich zu weit aus dem Meinungsmainstream herauswagt, der bekommt kein Bein mehr auf den Boden. Das ist immer und überall so.

Entscheidend ist für die langfristige politische Entwicklung nun nicht so sehr, welche Partei die Wahl gewinnt, sondern wie sich dieses Fenster erlaubter Positionen im Laufe der Zeit verschiebt. Die familienfeindlichen Parolen, die heute CDU-Programmatik sind, hätte sich kein ehrbarer Sozialdemokrat in der Weimarer Republik zu sagen getraut. 1970 war der hart-linke US-Demokrat Ted Kennedy vehement gegen Abtreibung, wie auch noch in den 80er-Jahren Al Gore, Bill Clinton und viele andere Demokraten, die sich später als Gefolgsleute des Herodes hervorgetan haben. Heute, und damit kehren wir zum aktuellen Wahlkampf in den Vereinigten Staaten zurück, trauen sich selbst die angeblich „konservativen“ Republikaner nicht mehr, diese Position ernsthaft und überzeugt zu vertreten. Auf ihrem Parteitag war davon wenig zu hören und Romney hat sich erstv rechtzeitig für die Vorwahlen im Sinne der „konservativen Parteibasis“ zum Abtreibungsgegner gewandelt, während er vorher immer für das „Recht auf Abtreibung“ eingetreten ist. Währenddessen haben sich die Demokraten endgültig als die Partei des Todes definiert, in der Abtreibungsgegner mit offener Feindseligkeit behandelt werden, denen man nicht einmal mehr die Freiheit ihres Gewissens zugestehen möchte. Diese Verschiebung ist nicht das Resultat von Wahlen. Im Jahre 1973 erfand der Supreme Court in seinem berüchtigen Urteil im Fall „Roe vs. Wade“ ein nahezu unbeschränktes Recht auf Abtreibung. Vorher war die Abtreibungsgesetzgebung aufgrund der bundesstaatlichen Ordnung der USA Ländersache, doch durch das Urteil von 1973 hob der Supreme Court die Abtreibungsfrage auf die Bundesebene. Zwischen 1976 und 2008 hat nur Bill Clinton das Weiße Haus als Abtreibungsbefürworter erobert, und das auch nur, indem er nicht müde wurde, seinen Wunsch nach „weniger Abtreibungen“ kundzutun.

Nein, die Verschiebung des Fensters der erlaubten Meinungen resultiert nicht aus Wahlergebnissen, sondern aus breiteren kulturellen Entwicklungen. Die Gesellschaft verändert sich immer weiter in eine bestimmte Richtung, und irgendwann werden bestimmte, früher selbstverständliche Haltungen, wie etwa das Lebensrecht für die Ungeborenen, erst umstritten, dann seltsam, dann extrem und schließlich unwählbar. Diese Veränderungen haben nichts mit Wahlen zu tun, weshalb Wahlen auch nur selten wirklich wichtige Ergebnisse zeitigen.

Diese Veränderungen resultieren auch nicht aus dem Volkswillen, denn das Volk als solches hat keinen Willen. Das, was als Volkswille verpackt und mundgerecht medial verabreicht wird, ist nicht der Wille des Volkes, sondern immer – in jedem politischen System – der Wille der gesellschaftlichen und kulturellen Elite. Die Schmiede dieser Elite ist im weitesten Sinn des Wortes die moderne Universität oder das moderne Bildungswesen. Dort werden die Grundansichten und Vorurteile geprägt, die die nächste Generation an Meinungsmachern in Politik, Wirtschaft, Kunst, Kultur und Medien gemeinsam haben wird. Fast alle Meinungsmacher sind Produkte der modernen Universität, besonders jene, die sich für individuell, kreativ und eigenständig genug halten, um sich „zu allem eine eigene Meinung zu bilden“. Die Meinungsbildner machen die Meinungsmacher und die Meinungsmacher machen den Volkswillen.

Christliche Positionen zu äußern, ist heute praktisch undenkbar, wenn man noch als respektables Mitglied der Gesellschaft zu gelten wünscht. Klar, mancher wird noch toleriert, als Hofnarr oder respektabler alter Opa, dessen „vorsintflutliche“ Ansichten bald aussterben. Narr, Fossil oder Paria – das sind die Alternativen für den ernsthaften Christen in der postmodernen Welt.

Zu spüren bekommen hat dies der bewundernswerte christliche Gentleman Todd Akin im Kontext des Wahlkampfes in den USA. Er ist republikanischer Senatskandidat für den Bundesstaat Missouri und gläubiger evangelischer Christ. Er verkündete seine feste Überzeugung, dass Abtreibung immer die Tötung eines unschuldigen Menschen ist, und daher immer, auch nach Vergewaltigungen abgelehnt werden müsse. Zudem sprach er die Binsenweisheit aus, dass es auch „Vergewaltigungsopfer“ gibt, die gar nicht vergewaltigt worden sind. Schließlich tat er noch eine zweifelhafte Äußerung über die bei einer Vergewaltigung ablaufenden biologischen Prozesse und die Wahrscheinlichkeit, mit der sie zu einer Schwangerschaft führen.

Seine Einlassungen zum Thema Biologie waren wohl sachlich weitgehend falsch, und dies kann man gern kritisieren. Er muss sich besser informieren, bevor er sich zu solchen Themen äußert. Dass Vergewaltigung oft einfach behauptet wird, auch wenn sie gar nicht stattgefunden hat, ist allgemein bekannt, aber vielleicht politisch unkorrekt. Dieses Thema im Wahlkampf anzusprechen, kann man aus strategischen Gründen kritisieren, da es die Wahlchancen schmälert, dem politischen Gegner Material liefert, und unsensibel gegenüber vergewaltigten Frauen wirken könnte.

Nach Akins Äußerungen brach ein Sturm der geheuchelten Entrüstung in den linksliberalen Mainstream-Medien los. Das war zu erwarten. Für diese Leute ist Abtreibung ein Sakrament, das nicht kritisiert werden darf.

Akins eigene Partei fiel über ihn mit einer tollwütigen Wildheit her, die seinen milden, unglücklichen Worten nicht angemessen war. Und die Kritik bezog sich nicht auf seinen Faktenirrtum zum Thema Biologie, nicht auf seine etwas unsensible Formulierung, sondern direkt auf den Hauptinhalt seiner Worte: Auf die Ablehnung von Abtreibung nach Vergewaltigung. Dies sei nicht die Position von Romney und Ryan, und nicht die Position der Republikaner, hieß es. Man forderte Akin zum Rücktritt auf. Man entzog ihm jegliche finanzielle Unterstützung der Bundespartei. Es wurden sogar Rufe laut, man möge der kleinen Schar treuer Gefährten, die an Akin festhalten wollte, das Rederecht auf dem Parteitag entziehen. Die Stimmung erinnerte an die Säuberungsaktionen, die in kommunistischen Parteien gegen Dissidenten und „Rechtsabweichler“ öfters vollzogen worden sind.

Akin, ein Mann mit Rückgrat, der sich für die Wortwahl längst entschuldigt und seinen biologischen Kenntnisstand aufgebesser hat, aber inhaltlich an seiner festen Unterstützung des Lebensrechts auch für Kinder, deren Mütter vergewaltigt worden sind, festhält, liegt in den Umfragen nunmehr gleichauf mit seiner Gegenkandidatin McCaskill. Er hat nicht die Absicht, von seiner Kandidatur zurückzutreten. Vielleicht wird es dieser Mann mit dem starken, christlichen Glauben und seinem unverrückbaren Gewissen ja noch in den Senat schaffen. Zu gönnen wäre es ihm.

Doch was auch immer aus Todd Akin werden wird; sein Fall hat bereits heute gezeigt, dass es in den USA keine Partei mehr gibt, die für elementare christliche Grundwerte und die Allerschwächsten einzustehen bereit ist, dass sich auch unter linksliberalen Abtreibungsbefürwortern wie Mitt Romney im Weißen Haus nichts ändern wird, dass die Menschenwürde der Ungeborenen auch unter Heuchlern wie Romney mit Füßen getreten werden wird, und dass die Republikaner sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – längst dem sich verschiebenden Fenster erlaubter Meinungen angepasst haben.

Und dass selbst der heuchlerisch zur Schau gestellte Ökumenismus keinen einzigen katholischen Bischof dazu bewegen konnte, das mutige Zeugnis eines gläubigen evangelischen Mitchristen für die Ungeborenen und Unschuldigen auch nur mit einem einzigen Wort lobend zu erwähnen.

Im modernen Amerika – wie im modernen Europa – ist Abtreibung das einzige anerkannte Sakrament aller etablierten Parteien.

Strukturelle und inhaltliche Kontinuität

Alle Vergleiche hinken. Dies gilt auch und gerade für den folgenden Vergleich zwischen politischem und theologischem „Konservatismus“. Der Vergleich hinkt sogar sehr stark, weil der christliche oder katholische theologische „Konservative“ über einen durch göttliche Offenbarung unhintergehbar zugesagten Schatz von Glaubenswahrheiten verfügt, die nicht mehr Gegenstand der theologischen Debatte sein können. Gerade für den Katholiken sind die fleischliche Auferstehung Christi, die immerwährende Jungfräulichkeit Marias, der Charakter der Messe als Opfer, die Einzigkeit und Heilsnotwendigkeit der Katholischen Kirche usw. nicht verhandelbare Gegenstände politischer oder quasipolitischer Debatten. Sie sind diplomatischen Zugeständnissen, ökumenischen oder interreligiösen Gesten oder opportuner Anpassung an den Zeitgeist schlicht und einfach nicht zugänglich.

Der theologische „Konservative“ vertritt also in seinem Festhalten an der überlieferten Glaubenswahrheit nicht bloß eine prinzipiell bestreitbare, möglicherweise falsche Überzeugung, dass eine bestimmte Sache bewahrenswert sei, sondern die gewisse Sicherheit, dass Gott seine Kirche in Fragen des Glaubens und der Sittenlehre in die Wahrheit und nicht in den Irrtum führen wird.

Politischer Konservatismus mag bis zu einem gewissen Grad Gegenstand individueller Temperamente sein. Mancher neigt vielleicht eher zur Risikobereitschaft und ist bereit, gesellschaftliche Veränderungen auszuprobieren, auch auf die Gefahr hin, dass sie sich als Irrtümer herausstellen und Schaden verursachen könnten. Ein anderer ist eher vorsichtig. Er bewertet die Vermeidung potenziell schädlicher Irrtümer höher als die Möglichkeit eventueller positiver Fortschritte. So unterscheiden sich die Menschen. In der politischen Sphäre kann man daher nicht objektiv sagen, ob in einer gewissen politischen Streitfrage der Konservative oder sein Gegner im Recht ist. In lehramtlich geklärten theologischen Fragen kann der Katholik hingegen genau diese Feststellung treffen. Wer behauptet, Christus sei gar nicht wirklich fleischlich auferstanden mit einem echten, sichtbaren, wenn auch verklärten Leib, sondern bloß in der Hoffnung oder religiösen Erfahrung seiner Anhänger, der leugnet eine sichere Glaubenswahrheit. Er hat nicht nur einfach ein experimentierfreudiges Temperament, oder ist für oder gegen Fortschritt, sondern er leugnet die Grundbasis des christlichen Glaubens.

Eine Person als „politisch konservativ“ einzustufen, gibt Auskunft über diese Person, über ihr Temperament, ihre Haltung zu Tradition und Fortschritt usw. Eine Person als „theologisch konservativ“ einzustufen, heißt einfach nur, dass sie an den sicheren und gewissen Glaubenswahrheiten festhalten will. Man könnte statt „theologisch konservativ“ also auch einfach „orthodox“ oder „katholisch“ sagen, was zugleich prägnanter und aussagekräftiger wäre.

Wenn ich nun diesen zugegeben extrem stark hinkenden Vergleich heranziehen möchte, dann nur, um zwei verschiedene Strömungen innerhalb der heutigen katholischen Kirche konzeptionell voneinander zu trennen, die beide kein kirchliches Dogma leugnen, sich aber dennoch in ihren theologischen Positionen deutlich voneinander unterscheiden. Zu diesem Zweck möchte ich die gestern bereits dargestellte Unterscheidung von „Strukturkonservatismus“ und „Wertkonservatismus“ heranziehen. Der Strukturkonservative hält an den gesellschaftlichen Strukturen fest. Er lehnt eine Veränderung ab, weil sie das Skelett der Gesellschaft, ihre Grundstruktur angreift. Der Strukturkonservative ist meist von vorsichtigem Temperament, schätzt Experimente überhaupt nicht, und fühlt sich wohl, wenn alles beim Alten bleibt. Der Wertkonservative hat ein ganz bestimmtes, inhaltlich klar definiertes Idealbild einer Gesellschaft im Auge, von dem er glaubt, dass bestimmte „Fortschritte“ oder „Reformen“ ihm entgegenstehen und deshalb verhindert werden müssen. Der Wertkonservative, sofern er wertkonservativ ist, lehnt Veränderungen gar nicht per se ab. Er lehnt Reform „x“ nicht ab, weil sie eine Veränderung der gesellschaftlich-politischen Struktur ist, sondern weil die Reform inhaltlich in die falsche Richtung geht.

Natürlich sind viele Strukturkonservative auch wertkonservativ (und umgekehrt), doch konzeptionell liegt hier eine klare Differenz vor.

Diese politische Unterscheidung möchte ich analog – wenn auch mit größter Vorsicht und Vorläufigkeit – auf die „kirchenpolitische“ Lage übertragen. Es gibt Kräfte in der Kirche (die üblichen Reformkatholiken), die weder struktur- noch wertkonservativ sind. Sie beharren nicht auf den überlieferten kirchlichen Strukturen, und auch nicht auf den Glaubensinhalten. Dann gibt es Kirchenmänner wie den Erzbischof Müller, die durchaus an den überlieferten, hierarchischen Strukturen festhalten möchten, die etwa das Frauenpriestertum, die diversen Laienaufstände usw. immer eindeutig und unmissverständlich abgelehnt haben, und die auch die Struktur der katholischen Theologie beibehalten möchten. Sie bleiben bei den traditionellen theologischen Begriffen. Sie wollen keine neue Theologie schaffen, die den offenen Bruch mit der traditionellen, katholischen Theologie vollzieht. Kurzum: Sie sind für Kontinuität der Strukturen in jeder Hinsicht.

Und doch verändern sie subtil die Bedeutung überlieferter Glaubenswahrheiten. Wenn Erzbischof Müller die Jungfräulichkeit, die Maria auch heute noch hat, so stark spiritualisiert, dass man darin nur noch mir sehr viel Wohlwollen ein Bekenntnis zur auch physischen Jungfräulichkeit lesen kann, dann haben wir genau das, was ich mit dem hinkenden Vergleich zum „Strukturkonservatismus“ beleuchten möchte. Ebenso, wenn derselbe Erzbischof erklärt, man hätte den auferstanden Jesus nicht mit einer Filmkamera aufnehmen können. Hier wird der Leib des Auferstandenen so stark spiritualisiert, dass er nicht mehr materiell genug wäre, dass diese Materie auch objektiv, unabhängig von den „Erfahrungen“ gläubiger Menschen wahrnehmbar wäre. Dies schließt zwar die traditionelle Deutung nicht explizit aus – bricht also nicht mit der Struktur der katholischen Überlieferung – verschiebt aber die Inhalte so stark, dass im Grunde eine andere Theologie dabei herauskommt. Ein fleischlicher, verklärter Leib, den der zweifelnde Thomas anfassen, und der Fisch essen konnte, ist eine ganz andere Sache, als ein spiritualisierter Leibrest, der nur in den Erfahrungen der Gläubigen überhaupt wahrnehmbar ist, selbst wenn beide Deutungen formal in Einklang mit der traditionellen Doktrin zu bringen sein sollten.

Hier haben wir den Unterschied zwischen strukturkonservativem und wertkonservativem Denken auch in der katholischen Theologie. Beide Arten von „Konservativen“ sind formal orthodox – sie leugnen formal keine Glaubenswahrheit. Und doch ist die Haltung, die etwa hier zum Ausdruck kommt grundsätzlich anders als die, die Erzbischof Müller zum Ausdruck bringt.

Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen einer Hermeneutik der strukturellen Kontinuität („Kontinuität des einen Subjekts Kirche“, wie es der Heilige Vater ausdrückt), und einer Hermeneutik der inhaltlichen Kontinuität, in der nicht nur die gleiche Kirche mit den gleichen Strukturen ihrer göttlichen Verfassung die gleichen Glaubenssätze lehrt, sondern in der sie auch noch inhaltlich dasselbe mit diesen Glaubenssätzen meint.

Beide lehnen die „Hermeneutik des Bruches“ ab, doch das heißt noch nicht, dass sie sich einig in ihrem Verständnis von Kontinuität wären. Dies ist weder bei dem ewigen Zankapfel des letzten Konzils der Fall, noch bei allen anderen Fragen des Glaubens und der Sittenlehre. Ein Verfechter der Hermeneutik der strukturellen Kontinuität beharrt auf der Kirche wie sie immer war, doch er ist bis zu einem gewissen Grad bereit, die Bedeutung der Strukturen (auch sprachlicher Strukturen, wie Glaubenssätzen) neu zu fassen oder umzuinterpretieren. Er geht dabei nicht so weit wie der typische Modernist, der gleich das ganze Dogma umstülpt und einfach eine politisch korrekte Floskel über Nächstenliebe daraus macht, aber er feilt durchaus an den Inhalten auf eine Weise, dass die Glaubenswahrheit nachher einen anderen Bedeutungshorizont hat, selbst wenn die Worte unverändert bleiben und kein inhaltlicher Aspekt direkt geleugnet wird.

Ich möchte abschließend noch zweierlei betonen: Erstens, dass es sich hier um eine konzeptionelle Unterscheidung handelt. Verschiedene Katholiken, wie etwa der Heilige Vater, Erzbischof Müller, Bischof Fellay, Catocon und viele andere, werden sicherlich von beiden Arten der Kontinuität etwas in sich haben. Gewisse inhaltliche Verschiebungen wird selbst der schärfste real existierende Verfechter einer umfassenden, inhaltlichen Kontinuität nicht ablehnen, solange sie fernab jeder festgelegten Glaubenswahrheit liegen, und auch der Anhänger einer „strukturellen Kontinuität“ im oben angedeuteten Sinne ist nicht zu jeder Umdeutung der Strukturen bereit, weil er weiß, dass ein solches Unterfangen in häretischem Modernismus enden kann, wenn man sich nicht vorsieht. Insofern ist der reale Unterschied geringer als der idealtypische. Ich glaube jedoch, dass diese beiden Idealtypen in der realen katholischen Welt vielfache Anwendung finden können.

Zweitens, dass ich mir nicht anmaße, die eine oder die andere Seite außerhalb des orthodoxen, glaubenstreuen Katholizismus zu verorten. Solche Feststellungen zu treffen ist nicht meine Sache, und darüber bin ich auch sehr glücklich. Ich versuche hier nur, mittels eines hinkenden, doch meines Erachtens trotzdem nützlichen Vergleichs aus der politischen Sphäre, einige Eindrücke zu vermitteln, denen ich mich bei der Betrachtung der katholischen Landschaft nicht verwehren kann. Der Zweck dieses Essays ist daher Analyse, nicht Urteil.

Der Konservative als Nachhut

Gemeinhin wird in unserem politischen System zwischen fortschrittlichen und konservativen Kräften unterschieden. Die einen, so geht dieser Mythos, arbeiteten auf die Umgestaltung der Gesellschaft durch Reformen hin, die anderen wollten den bestehenden Zustand bewahren. Sofern der heutige politische Diskurs überhaupt noch über kohärente Kategorien verfügt, die sich nicht am unmittelbaren Nutzen einer Wählergruppe oder der ökonomischen, politischen und medialen Elite orientieren, reduziert sich politisches Denken auf die Differenz zwischen Liberalen und Sozialdemokraten bzw. Sozialisten und den Kontrast zwischen Fortschrittlichen und Konservativen.

Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, diese Begriffe hätten einen sinnvollen Inhalt, der sich tatsächlich zumindest ungefähr abgrenzen läßt. Dies ist auch nicht falsch, denn schließlich kann man wirklich relevante Unterschiede zwischen diesen politischen Grundhaltungen oder Ideologien angeben. Doch verdecken diese oberflächlichen Unterscheidungen meiner Erfahrung nach eine viel tiefere Verbundenheit, als die teils heftig ausgetragenen Differenzen zunächst den Anschein machen.

Mögen sich liberale und sozialdemokratische Redner auch über die optimale Höhe der Steuersätze uneinig sein, und mag zwischen fortschrittlichen und konservativen Politikern ein Unterschied etwa über den Ausbau der frühkindlichen Betreuung bestehen, so basieren diese Unterschiede doch wieder auf viel tiefer liegenden Gemeinsamkeiten. So leugnen weder die meisten Liberalen noch die meisten Sozialdemokraten oder Sozialisten, dass der Staat das Recht hat, Steuern einzuziehen – sie streiten sich nur über die Höhe. Sie sind sich einig, dass die Globalisierung so unumgänglich wie großartig ist – nur schwärmen die einen für den globalen Markt, und die anderen hätten am liebsten den Weltwohlfahrtsstaat, der die bösen Kapitalisten in ihre Schranken verweist.

Ebenso streiten sich fortschrittliche und konservative Kräfte tatsächlich über das Betreuungsgeld. Doch sie sind sich einig, dass Männer und Frauen prinzipiell die gleichen gesellschaftlichen und familiären Rollen übernehmen sollen, dass kostenlose „Betreuung“ in Krippen für Kleinkinder überhaupt staatlich unterstützt werden soll, dass spätestens am dem dritten Lebensjahr des Kindes möglichst alle Mütter wieder einer ganztägigen Erwerbsarbeit nachgehen sollen usw.

In allen diesen Fällen überdecken oberflächliche Streitigkeiten eine viel grundsätzlichere Einigkeit. Ein wesentlicher Grund dafür liegt in der Natur des Konservatismus. Es gab einmal eine Zeit, nämlich im 19. Jahrhundert, als nationalistische und liberale Bestrebungen die Avantgarde des Fortschritts und der Modernisierung darstellten. Konservative, die dagegen opponierten, hielten meist an den christlichen Monarchien Europas oder am monarchischen Absolutismus fest. Doch bald verdrängten neue Ideen die Liberalen und Nationalen von der Speerspitze des Fortschritts. Sozialistische und Sozialdemokratische Ideen übernahmen spätestens am Anfang des 20. Jahrhunderts diese Rolle. Liberale, Nationale und Konservative fanden sich nun gemeinsam auf der „Rechten“ wieder – sie alle lehnten die sozialistische Ideologie ab. Unter diesen Bedingungen war es nur sinnvoll, dass sie gemeinsam gegen den Sozialismus antraten. Der Liberalismus, der im 19. Jahrhundert der Linken angehörte, verband sich mit den klassischen konservativen Vorstellungen. Im Laufe der Jahrzehnte ging diese Drift weiter. Spätestens nach dem 2. Weltkrieg waren Liberalismus und Konservatismus in den meisten westlichen Ländern fest verwachsen.

Im Moment erleben wir den nächsten Schritt dieser Entwicklung. Mit dem Aufkommen des radikalen Feminismus und der sogenannten 68er-Bewegung fanden sich klassische Sozialdemokraten der alten Schule immer mehr von der Speerspitze des Fortschritts verdrängt – ebenso wie einige Generationen vor ihnen die Liberalen und Nationalisten verdrängt worden waren. In den USA ist dies besonders drastisch an den Demokraten zu erkennen, die sich mit dem New Deal einer im Wesentlichen sozialdemokratisch ausgerichteten Position zugewandt hatten, nur um dann spätestens 1972 von der Neuen Linken übernommen zu werden, die die Partei heute zu einer Interessenvereinigung transformiert hat, in der enthusiastische Zustimmung zu Abtreibung und Feminismus jederzeit klassische soziale Ziele übertrumpfen. Aber auch in Europa gibt es diesen Effekt. Es sind nicht umsonst gerade die sozial schwachen Schichten, in denen der unartikulierte Widerstand gegen Multikulturalismus, Feminismus und andere Ziele der Neuen Linken besonders stark brodelt, und in denen diverse Protestparteien (gleich welcher Ausrichtung) besonders starken Zuspruch finden.

So werden nun klassische Sozialdemokraten mehr und mehr nach „rechts“ abgedrängt, und finden sich damit in der Position wieder, die die Liberalen ausgangs des 19. Jahrhunderts bereits vorgefunden hatten. Der Marsch des Fortschritts ist weitergegangen, die Avantgarde hat ein neues Hobby gefunden – die „Gleichheit“ von Frauen, Homosexuellen, Ausländern usw. hat die „Gleichheit“ der Arbeiter längst überflügelt.

So verwundert es auch nicht, dass ein Thilo Sarrazin mit seinen Thesen generell als „rechts“ eingeordnet wird, obgleich seine Lösungen meist klassisch sozialdemokratisch sind.

Die alte liberal-national-konservative Koalition, die wohl unter Adenauer und Erhard in Deutschland ihren Höhepunkt gehabt haben dürfte, hat sich im Laufe der Jahrzehnte immer mehr von ihrem konservativen (und damit aufgrund der historischen Bedeutung des Christentums für Europa auch christlichen) Standbein verabschiedet. Faktisch haben explizit christliche oder traditionell konservative (also gegen „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ und die Werte von 1789 eingestellte) Kräfte praktisch kein politisches Gewicht mehr in den westlichen Ländern. Aus der liberal-national-konservativen Koalition ist wohl schon unter Kohl und Lambsdorff, spätestens aber in der Merkel-CDU das konservative Standbein weggebrochen.

Und angesichts der aktuellen Eurokrise versucht man das nationale Standbein auch zu verscharren, weil es für den Machterhalt der derzeitigen Elite hinderlich geworden ist.

Die „Rechte“ wird – zumindest sofern sie sich nicht nationalsozialistisch geriert (und das ist nur eine winzige Minderheit) – heute nahezu total von einer wirtschaftsliberalen Elite beherrscht, die noch vor 150 Jahren als links und äußerst progressiv gegolten hätte. Die heutige „Rechte“ ist internationalistisch, befürwortet eine globale Marktwirtschaft und einen globalen Nachtwächterstaat, lehnt traditionelle Bindungen an Familie, Heimat, Gott und Vaterland als rückschrittlich und unmodern ab, und möchte sie im Namen von Flexibilität und Fortschritt überwinden.

Die heutige Rechte ist also bloß die gestrige Linke und die gestrige Rechte bloß die vorgestrige Linke. So kann man erwarten, dass die morgige Rechte die heutige Linke sein wird. Diese Tendenzen sind in der Merkel-CDU bereits zu erkennen. Eine Ursula von der Leyen, deren etatistische Allmachtsphantasien wohl früheren sozialdemokratischen Wählern zu extremistisch vorgekommen wären, repräsentiert diese Rechte der Zukunft, die bloß die Linke der Gegenwart ist.

Dies ist letztlich das Problem des Konservatismus. Er bewahrt immer die Irrtümer seiner Vorgänger. Er ist die Nachhut des Fortschritts.

Vorhut und Nachhut sind zwei ganz unterschiedliche Teile einer Formation – doch sie gehören beide zu derselben Formation, selbst wenn sie in ihr verschiedene Aufgaben erfüllen.

Konservatismus ist daher überhaupt keine nennenswerte politische Kraft. Die „Konservativen“ des 19. Jahrhunderts konservierten bloß die politischen Strukturen des 18. Jahrhunderts, so wie die „Konservativen“ des 20. Jahrhunderts krampfhaft am liberalen und nationalen Denken des 19. Jahrhunderts klebten, und wie die heutigen Konservativen stupide die Ideen des 20. Jahrhunderts verteidigen.

„Konservativ“ ist kein politisches Bekenntnis, sondern ein Offenbarungseid. Der Konservative bekennt sich zu den gescheiterten Ideen von gestern, statt zu den Ideen von heute, die erst noch scheitern werden. Weder der Progressive noch der Konservative besitzen die geistige Munterkeit, sich auf die zeitlosen Ideen zu stützen, ganz gleich, ob sie gerade populär sind, oder als absurd gelten.

Der Konservative bewahrt die Strukturen, die der Progressive gestern eingeführt hat. Chesterton definierte den Progressiven als jemanden, der ständig neue Fehler mache, und den Konservativen als den, der die Korrektur dieser Fehler verhindere.

Konservatismus ist daher immer schwammig und fließend. Er beharrt auf Strukturen, nicht auf grundsätzlichen Wahrheiten.

Natürlich gibt es auch Menschen, die sich in Abgrenzung von dem hier beschriebenen Konservatismus als „wertkonservativ“ bezeichnen, um damit anzudeuten, dass sie nicht bloß irgendwelche historisch zufälligen gesellschaftlichen Entwicklungsstadien mumifizieren und für immer beibehalten wollen, sondern dass sie ganz bestimmte absolute, nicht verhandelbare Werte besitzen, in denen sie keine Handbreit nachgeben werden, komme was wolle. Diese „Wertkonservativen“ trifft meine Kritik nicht. Sie sind nicht Nachhut, sondern Überbleibsel. Sie sind der Rest, der sich mit dem Fortschritt gar nicht versöhnen kann, der nicht immer bloß einen Schritt hinter dem Fortschritt herzurennen gedenkt, sondern der starr und unflexibel auf seinen Überzeugungen beharrt.

Wenn sie wirklich fest und treu an den westlichen Traditionen, an Athen, Rom und Jerusalem, festzuhalten gedenken, dann haben sie ein solides Fundament, auf dem ihr Denken und ihr Handeln aufbauen kann. Sie sind keine orientierungslosen Mitläufer des Fortschritts – wie die heutigen etablierten „Konservativen“. Sie sind aber auch nicht gesellschaftsfähig. Sie sind ewige Störenfriede, weil sie sich nicht anpassen wollen und nicht anpassen können.

Staat, Kirche und Religion: Was ist katholische Politik?

Viel wird über katholische Theologie, katholische Frömmigkeit und dergleichen geschrieben, und auch die Soziallehre findet immer wieder positive Erwähnung in den Sonntagsreden diverser Politiker, Bischöfe und Autoren. Doch in einer politisch sehr spannenden Zeit, in der bedeutende Weichenstellungen für die Zukunft getroffen werden, taucht für mich als gläubigen Katholiken unweigerlich immer wieder die Frage auf, ob es überhaupt so etwas wie eine katholische Politik gibt, und welche Folgen die Existenz genuin katholischer Anliegen in der Politik für den „säkularen Staat“ hat.

Ich bin überzeugt, dass die weltliche Sphäre von der geistlichen in einem gewissen Sinne nicht zu trennen ist. Das informierte katholische Gewissen kann zu politischen Entscheidungen wie der Legalisierung von Abtreibung, Euthanasie („aktive Sterbehilfe“) oder der Unterwanderung der natürlichen Familie nicht schweigen. Ebenso muss der Katholik aufbegehren, wenn Gier zum obersten Ordnungsprinzip der Wirtschaft erhoben wird, und Neid die Sozialpolitik beherrscht. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Aber bereits jetzt ist offensichtlich, dass es einige Bereiche gibt, in denen der Katholik bestimmte Positionen nicht vertreten kann, weil dies seinem informierten Gewissen widerspricht. Eine vollständige Trennung von Religion und Staat kann es daher nicht geben.

Man beachte jedoch die Distinktion zwischen „Religion“ und „Kirche“. Das Fehlen dieser wesentlichen Unterscheidung führt zu sehr vielen Irrtümern in der Debatte über das richtige Verhältnis von Kirche und Staat. Denn während die Kirche sehr wohl grundsätzlich vom Staat getrennt werden kann, gilt dies keinesfalls für die Religion. Wenn der Katholik durch seinen Glauben motiviert wird, eine bestimmte politische Position zu beziehen – etwa für ein Abtreibungsverbot, gegen die Einführung der „Homo-Ehe“ oder gegen die Ausbeutung von Arbeitern in vielen Entwicklungsländern – dann ist dies offensichtlich ein Verstoß gegen die „Trennung von Religion und Staat“. Denn viele Katholiken werden sehr wohl religiös motiviert sein, und nicht von einer säkularen ethischen Überlegung, wenn sie solche Thesen vertreten. Aber es ist kein Verstoß gegen die „Trennung von Kirche und Staat“, weil die Kirche überhaupt gar keine politischen Entscheidungen trifft.

Wenn umgekehrt eine Konferenz von Bischöfen aus Gründen der Machtpolitik Politiker beeinflusst, dann muss das noch nichts mit Religion zu tun haben. Es wäre also auch nicht notwendigerweise ein Verstoß gegen die Trennung von Religion und Staat, weil die Handlung dieser Bischöfe gar nicht religiös motiviert wäre. Aber es wäre natürlich ein Verstoß gegen die Trennung von Kirche und Staat – denn die Bischöfe sind offizielle Vertreter der Kirche (und wären sie auch atheistisch, sie blieben Vertreter der Kirche, bis sie von ihren Bischofsstühlen abberufen würden).

Staat und Kirche zu trennen ist daher auch aus traditionell katholischer Sicht meines Erachtens nicht unbedingt problematisch. Die natürliche Aufgabe des Staates ist das menschliche Gemeinwohl, die Aufgabe der Kirche das Seelenheil. Natürlich gibt es hier wichtige Berühungspunkte, etwa im Bildungswesen. Der Staat hat ein gerechtfertigtes Interesse an der Ausbildung der Jugend zu weltlichen Aufgaben. Die Kirche hat ein ebenso legitimes Interesse, nämlich die Jugend zu ihrem Seelenheil zu führen. Idealerweise würden Staat und Kirche nun kooperieren, so dass der Staat die Kirche fördert, wenn sie sich für das Seelenheil der Menschen einsetzt, und die Kirche den Staat unterstützt, wenn es um seine genuinen Aufgaben geht. Hier wird es natürlicherweise zu Spannungen kommen, doch eine solche Kooperation ist möglich. Man beachte, dass diese Kooperation die Trennung von Staat und Kirche gar nicht beeinflusst. Staat und Kirche sind immer noch unabhängig voneinander – sie arbeiten nur zusammen, wenn es für ihre jeweiligen gerechten Anliegen sinnvoll ist.

Doch selbst wenn eine solche Kooperation in der modernen pluralistischen Gesellschaft derzeit nicht möglich ist, können Kirche und Staat getrennt bleiben und neutral koexistieren. Auch eine Trennung von Kirche und Staat in diesem Sinne kann die Kirche meiner Auffassung nach jederzeit akzeptieren. Jedoch nur unter einer Bedingung: Dass es nicht zugleich auch noch eine Trennung von Religion und Staat gibt.

Eine Trennung von Religion und Staat geht nämlich viel weiter: Nur noch sälulare Argumente sollen im öffentlichen Raum zugelassen werden. Das führt zur Diktatur des Säkularismus. Wenn jemand sagt, er sei gegen Abtreibung, weil das Gottes Gesetz widerspricht, dann wird er ausgelacht. Seine Meinung gilt als disqualifiziert, weil sie sich auf ein nichtsäkulares Argument stützt. Die Diktatur des Säkularismus verschanzt sich hinter der These von der „Trennung von Kirche und Staat“, doch fordert in Wahrheit viel mehr. Religiöses Denken soll aus der öffentlichen Diskussion ausgeschlossen werden.

Dies führt jedoch zu einer weiteren Diktatur, die der Heilige Vater immer wieder angeprangert hat: Der Diktatur des Relativismus. Jedes moralische System soll gleichermaßen öffentliches Gehör finden, solange es sich allein auf säkulare Argumente beruft. Manche gehen gar so weit, einer Trennung von Moral und Politik zumindest implizit das Wort zu reden. Moral soll Privatsache sein. Dies ist jedoch widersinnig, da Ethik sich mit dem guten Leben beschäftigt, und dieses aufgrund der Sozialnatur des Menschen immer ein Leben in Gemeinschaft ist (und sei es die kontemplative Klostergemeinschaft). Ethik und Politik, Moral und Politik lassen sich nicht trennen. Jede politische Frage ist eine moralische Frage. Und welche moralische Auffassung richtig ist, hängt entscheidend davon ab, welche religiöse Weltanschauung der Wahrheit entspricht.

Wenn es tatsächlich einen guten Schöpfergott gibt, der uns alle liebt, uns allen das höchste Glück in Ewigkeit ermöglichen will, dann hat das Konsequenzen, auch für moralische Fragen – etwa für den Wert des menschlichen Lebens. Dies sei nur als ein Beispiel aus hunderten herausgegriffen. Jede politische Frage ist eine moralische Frage, und die Antwort auf jede moralische Frage hängt entscheidend von der religiösen Weltsicht ab.

Politik und Religion können daher nicht getrennt werden. Katholiken können, sollen und müssen sich entschieden für das Gute einsetzen, und das gilt auch für die Politik. Bestimmte politische Ansichten sind nicht mit dem katholischen Glauben vereinbar, und da sehr viele politische Parteien heutzutage in wesentlichen Punkten mit dem Glauben unvereinbare Inhalte vertreten, ist der katholische Glaube auch nicht mit bestimmten Parteien vereinbar.

Drei Thesen möchte ich festhalten:

1. Kirche und Staat können und sollen in ihrem je eigenen Bereich eine echte Autonomie genießen, mithin getrennt sein. Bestimmte Dinge stehen dem Kaiser zu und wir sollten sie ihm geben.

2. Sie sollen in den Bereichen, in denen sie beide legitime Interessen haben, möglichst zusammenarbeiten. Wenn das nicht geht, dann muss der Staat wenigstens die Freiheit der Kirche und der einzelnen Katholiken gewährleisten, ihrem informierten Gewissen unbehindert folgen zu dürfen. Das heißt, der Staat darf von den Katholiken keine unmoralischen oder mit dem Glauben unvereinbaren Handlungen verlangen.

3. Religion, Moral und Politik können und dürfen nicht getrennt werden. Ein starkes Zeugnis von Katholiken – Laien und Geistlichen gleichermaßen – in der öffentlichen politischen Debatte ist unverzichtbar auch im säkularen Staat.

Soweit einige kurz skizzierte Gedanken zu der Frage einer katholischen Politik im säkularen Staat.

Homosexualität (5/5)

Die Möglichkeit der Umkehr

Der Mensch ist ein verunstaltetes Meisterwerk. Wunderschön, aber gebrochen. Er bedarf eines großartigen, göttlichen Arztes, um ihn wieder zusammenzuflicken. Dieser göttliche Arzt, Jesus Christus, gibt all diesen gebrochenen Meisterwerken, die auf Erden umherlaufen – ob homosexuell oder nicht – die einzigartige Chance, alle Wunden, alle Brüche zu heilen, wenn sie nur ihre Einwilligung zu der Therapie aus vollem Herzen geben. Diese Therapie heilt aber nicht die äußeren Wunden, sondern die Sünden, die der Mensch auf sich geladen hat. Und diese Sünden sind, wenn man sie nicht vom göttlichen Arzt heilen lässt, wirklich wie innere Verletzungen, die uns Menschen von innen ausbluten lassen, bis wir als blutleere Sklaven der Sünde in die ewige Verdammnis marschieren.

Doch wir, verunstaltete Meisterwerke die wir sind, können (unabhängig von unseren diversen sexuellen Perversionen) von unseren Sünden gereinigt werden, indem wir uns dem göttlichen Arzt aus freiem Willen und mit ganzem Willen hingeben, einwilligen in die Therapie, die er für uns vorgesehen hat, auch wenn diese Therapie oberflächlich betrachtet unangenehm oder gar schmerzhaft ist. Eine solche Einwilligung erfordert aber Vertrauen: Vertrauen, dass Jesus Christus uns nicht enttäuschen wird, dass er immer für uns da sein wird, dass er, auch wenn die Therapie gerade einmal besonders schmerzhaft ist, uns liebt, uns tröstet und uns schützt. Diese Einwilligung in die Therapie des großen göttlichen Heilers ist für alle Menschen gleichermaßen notwendig. Jeder von uns ist ein gebrochenes Meisterwerk. Homosexuelle ebenso wie notorische Faulenzer, gierige Raffzähne, und all die anderen wunderbar liebenswerten, scheußlichen, unnachahmlichen, unerträglichen, unverzichtbaren Sünder, die diesen Planeten bevölkern. Jeder von uns bedarf der Therapie des großen göttlichen Heilers. Niemandem von uns ist damit gedient, eine bestimmte Gruppe von Sündern besonders an den Pranger zu stellen. Aber ebenso ist niemandem damit gedient, eine Gruppe von Sündern zu ignorieren, oder ihnen gar zu erzählen, sie bedürften der Heilung nicht.

Gottes Liebe für die Homosexuellen

Alle homosexuellen Menschen werden von Gott bedingungslos geliebt, und er möchte auf keinen einzigen von ihnen verzichten. Doch gerade deswegen darf die Kirche die Wahrheit nicht verschweigen. Ausgelebte Homosexualität ist, unabhängig von der Frage wie sie entstanden ist oder warum ein Mensch sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt, eine Willensentscheidung. Niemand ist gezwungen mit einem anderen Menschen zu schlafen, gleich welchen Geschlechts. Und eine Willensentscheidung, die sich im Widerspruch zu der von Gott eingerichteten und in Bibel und Überlieferung bezeugten natürlichen Ordnung befindet, nennen wir eine Sünde. Das ist schlicht und ergreifend der Fall und niemandem ist damit gedient, dies zu leugnen.

Gott liebt die Homosexuellen. Deswegen will er sie auch bei sich im Himmel haben. Und daher legt er großen Wert darauf, dass sie ihre Schwächen so weit wie möglich schon in diesem Leben bekämpfen, statt ihre Schwachheit zu leugnen. Wir alle sind schwach. Wir alle werden manchmal schwach. Das ist in Ordnung. Gott kennt unsere Schwäche. Dafür hat er größtes Verständnis. Doch wer fällt, der soll wieder aufstehen – und Gott hilft ihm hoch. Wieder und wieder und wieder und wieder… sooft wie nötig. Gott ist geduldig mit uns. Doch alle Geduld der Welt reicht nicht aus, um jemandem hochzuhelfen, der von sich behauptet, er sei gar nicht gefallen.

Die „stolze“ Homosexuellenlobby

Und damit kommen wir zum letzten Problem. Heute ist es oft so, dass homosexuelle Menschen nicht nur die Lehre der Kirche ablehnen und privat homosexuell sind, ohne sich deswegen als Sünder zu fühlen, sondern auf ihre spezielle Sexualneigung einen gewissen Stolz entwickeln. Sie paradieren durch die Straßen, als ob ihre bestimmte Sexualneigung irgendwie öffentlichen Wert hätte. (Paradoxerweise sind das dieselben Leute, die ständig erklären, ihre Sexualität sei privat und gehe den Staat und die verklemmte Gesellschaft nichts an!)

Diese Gruppe von Homosexuellen leugnet nicht nur, dass ihr Verhalten sündig ist, sondern predigt ihre spezielle Sünde der ganzen Welt als wundervolle Sache. Damit weigern sie sich nicht nur selbst, die Gnade Gottes anzunehmen, sondern sie ermutigen auch Andere, dem Weg fort von Gott zu folgen. Das ist wesentlich schlimmer als nur homosexuelle Akte durchzuführen. Für diese Propagandisten kann die Kirche kein besonders großes Verständnis aufbringen. Selbst zu sündigen ist schlimm genug, doch andere zur Sünde zu animieren oder die Sünde als feiernswert darzustellen ist wesentlich schlimmer. Um wieder auf unser Beispiel mit dem Arzt zurückzukommen: Es ist schlimm genug, seine Krankheit nicht behandeln zu lassen, doch dann draußen herumzulaufen und andere anzustecken setzt dem ganzen die Krone auf.

Vermutlich sind diese „stolzen“ Homosexuellen nach wie vor eine Minderheit. Die meisten Homosexuellen – selbst diejenigen, die die Lehre der Kirche ablehnen – wollen ihren Trieben privat frönen und tun dies auch. Aber es gibt eben auch die radikalen Aktivisten, und das sind die öffentlich sichtbaren Propagandisten einer letztlich moralfreien Sexualität, in der nur noch die Verwirklichung des eigenen Triebes und kurzfristigen Willens zählt, und der andere, der Partner, wahrhaft zum Objekt des Triebes statt zum Subjekt der Liebe wird. Diese Propagandisten können nicht für sich reklamieren, einfach nur das zu leben, was ihre Triebe ihnen sagen.

Schlusswort

Abschließend lässt sich formulieren, dass die Trennung von Sünde und Sünder eine differenzierte Beurteilung der Problematik der gleichgeschlechtlichen Sexualakte ermöglicht. Der Sünder wird geliebt, und gerade deswegen ist die Sünde entschieden abzulehnen.

Homosexualität (4/5)

Der rechte Abgrund

Natürlich, wenn ein Homosexueller stolz auf seine Sexualneigung ist, dann hat er in unserer Gesellschaftsordnung das Recht dazu. Und er kann auch die liebevolle Belehrung durch die Kirche jederzeit ignorieren. Zwang ist grundsätzlich abzulehnen – Bekehrung, Umkehr, Kampf gegen die Sünde kann nicht erzwungen werden, sondern nur aus einer Haltung der Einsicht und einer Willensanstrengung erwachsen.

Wir dürfen den Menschen nicht so lassen wie er ist, denn er ist ein Sünder. Wir müssen den Menschen so annehmen wie er ist, bis auf die Sünde. Doch auch wenn diese Gefahr – die linke Seite des Abgrundes in unserer Metapher – real ist, so gibt es doch auf der anderen Seite eine weitere Gefahr. Denn es gibt – auch in der katholischen Kirche – immer wieder Personen, die Homosexualität an sich als Sünde titulieren, die zum Himmel schreie, als schecklichste Perversion und einiges mehr. Doch auch hier liegt ein nicht ganz falsches, aber eben auch nicht ganz richtiges Fragment der Wahrheit vor. Ja, gelebte Homosexualität ist moralisch verwerflich, und sie ist von Natur aus fehlgeordnet, selbst wenn sie nicht gelebt wird (doch an der natürlichen Fehlordnung trägt der einzelne Homosexuelle keine Schuld). Doch diese „rechte Seite des Abgrunds“ übersieht ein wesentliches Prinzip: Wir sollen zwar die Sünde (in diesem Falle gelebte Homosexualität) hassen, doch den Sünder lieben. Denn der Sünder ist ein unnachahmliches, einzigartiges Abbild Gottes, ein Mensch, eine Person. Doch die Sünde ist nichts dergleichen. Die Sünde ist die schreckliche Perversion, die zum Himmel schreit. Die Sünde, nicht der Sünder, verdient unsere Ablehnung. Der Sünder verdient unser Verständnis, unsere Unterstützung und (wenn er es wünscht) unsere Hilfe. Er verdient all das in seinem Kampf gegen die Sünde.

Der Fehler derjenigen, die radikal gegen Homosexuelle predigen, die (vor allem in manch vergangener Zeit) wirklich den Eindruck erweckten, als kämen Homosexuelle automatisch in den wärmsten Teil der Hölle, besteht darin, dass sie es unterlassen den Sünder von der Sünde zu trennen. Der Arzt trennt das Krebsgeschwür von seinem Patienten – er hasst den Krebs und liebt den Krebskranken. Er tut sein Möglichstes (wenn der Patient das will), um zu heilen, um den Patienten von seinem Krebs zu befreien. Im Felde der Chirurgie ist die Mitarbeit des Patienten während der Operation eher hinderlich, doch im Felde der Bekämpfung von Sünden ist sie unerlässlich. Das ist der Unterschied zwischen den beiden Fällen. Doch die Gemeinsamkeit ist wesentlich größer als der Unterschied. Sowohl der Arzt als auch der besorgte Katholik kämpft gegen etwas, das eindeutig übel ist (Krebs im einen Fall, Sünde im anderen) und vermag wohl zwischen dem Üblen und dem Guten zu unterscheiden. Der Arzt lehnt den Krebs ab, aber er lehnt den Krebs gerade deswegen ab, weil der Krebs den Patienten tötet. Er hasst den Krebs, weil er den Menschen liebt. Dasselbe gilt für den Katholiken. Er lehnt die Sünde (in diesem Fall gelebte Homosexualität) ab, nicht weil er etwas gegen den Homosexuellen hat, sondern weil er etwas für ihn hat. Er hasst die Sünde, weil er den Sünder liebt. Er hasst die Sünde, weil er den Sünder retten will.

Dies vergessen radikale Prediger gern. Sie verdammen den Sünder, weil er sündig ist, doch werfen dabei Sünder und Sünde in einen Topf. Der gute Katholik folgt allerdings dem Lehramt der Kirche und unterscheidet scharf, wie mit dem Skalpell, zwischen beidem. Er liebt den Sünder und hasst gerade deswegen die Sünde so sehr. Allerdings gebietet die Liebe gegenüber dem Sünder auch, dass man ihn als Person mit einer unveräußerlichen Menschenwürde anerkennt, und nicht gegen seinen Willen handelt. Man sollte also niemanden „umerziehen“ oder „ummodeln“. Aber man sollte jeden Menschen im Geiste brüderlicher Korrektur auf seine Schwächen, die man an ihm entdeckt, aufmerksam machen und ihm beim Kampf gegen sie helfen. Das gebietet die Nächstenliebe. (Freilich muss man dann auch in der Lage sein, mit einer ähnlichen Kritik, die sich gegen die eigenen Schwächen richtet, umzugehen. Man kann nicht den Splitter im Auge des Nächsten kritisieren, solange man vor dem Balken im eigenen Auge davonläuft, statt ihn zu bekämpfen. Und mit diesem Teil der Gleichung haben wir Menschen oft die größten Probleme.)

Liebt den Sünder – Hasst die Sünde

Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass die kirchliche Position eine vorbildliche Balance zwischen Exzessen auf der linken und der rechten Seite darstellt. Auf der einen Seite sind diejenigen, die in ihrem wohlmeinenden Eifer, alle Menschen so anzuerkennen wie sie sind, die Sünde gleich mit in den Rang des Würdesubjekts, das gefeiert werden soll, erheben. Auf der anderen Seite sind diejenigen, die in ihrem genauso wohlmeinenden Eifer nicht nur die Sünde selbst, sondern auch den schwachen Menschen, der sich in ihrem gierigen Griff befindet, verdammt. Doch oft genug können Menschen gar nichts für die Antriebe, mit denen sie aus Gewohnheit, aus psychologischen oder aus genetischen Gründen geschlagen sind, und vor denen sie immer wieder einknicken. In diesem Fall darf man niemals das Kind mit dem Bade ausschütten. Der Homosexuelle bleibt ein Sünder (wie wir alle), aber er bleibt auch ein Würdesubjekt, eine Person, die unsere unbedingte Anerkennung und unsere Liebe verdient. Die Kirche wendet sich mit gleicher Entschiedenheit gegen beide wohlmeinenden Irrtümer und propagiert die authentische Lehre Jesu Christi, durchzogen von größter Liebe gegenüber dem schlimmsten Sünder und daraus folgend einer tiefsitzenden Abneigung gegen die hässlichen Sündennarben, die das Antlitz Gottes in ihm verunzieren.