Ich schrieb gestern einen kurzen Kommentar zu dem Interview mit Martin Mosebach in der WELT und stellte die Frage, inwieweit Reichtum und Christentum überhaupt zusammengehen. Ich enthielt mich einer ausführlicheren Antwort, erhielt dafür jedoch einige sehr interessante Leserkommentare, die dieses Thema von verschiedenen Seiten beleuchteten und mir bei meiner eigenen Reflektion sehr geholfen haben.
Üblicherweise verfertigen sich die Gedanken beim Schreiben. Man beginnt mit einer ungefähren Ahnung, was man eigentlich sagen möchte, und während man schreibt wird diese Ahnung immer klarer, bis schließlich ein Text dabei herauskommt, der hoffentlich auf verständliche Weise sagt, was gesagt werden sollte. So ist es auch beim Thema Kompatibilität des Christentums mit einer Wohlstandsgesellschaft gewesen. Ich möchte nun in dem folgenden Artikel versuchen, unter Bezugnahme auf die hilfreichen Kommentare, eine vorsichtige Klärung des Sachverhalts zu erreichen.
Können Christen überhaupt Christen bleiben, wenn sie reich werden?
Ja, das ist in der Tat möglich. Bei Gott ist alles möglich. Doch auch wenn etwas prinzipiell möglich ist, kann es sehr schwer sein. Das ist hier sicher der Fall.
Warum passt das reiche Kamel nicht durch das Nadelöhr?
Das Jesuswort ist so unglaublich treffend, dass es auch gleich den Grund dafür mitliefert, warum der Reiche es so schwer hat in den Himmel zu kommen. Wir müssen den Willen Gottes tun, nicht unseren eigenen Willen. Sobald wir einen eigenen Willen haben, können wir uns gegen Gott entscheiden, wir können, wie man das heute formuliert, „unseren eigenen Weg gehen“. Das kann jeder Mensch, auch der Arme. Doch je mehr „Zeug“ man besitzt, je mehr materielle Dinge einen von der eigentlichen Frage ablenken, umso leichter wird man dazu verführt, sich um dieses ganze Zeug zu kümmern, und die eigentlichen Fragen zu verdrängen. Wenn das irdische Leben sehr schön und fast schon perfekt erscheint, dann fällt es besonders schwer, es aufzugeben, um das übernatürliche Leben zu erlangen.
In einem Kommentar wurde erwähnt, dass das Christentum die Tendenz habe, Wohlstand hervorzubringen. Stimmt das?
Hier ist nicht der Ort für eine ausgedehnte historische oder soziologische Analyse verschiedener christlicher Gesellschaften. Aber die These scheint mir auf tönernen Füßen zu stehen. Das christliche Mittelalter war nicht unbedingt reich, und in der christlichen Moderne ging der Reichtum mit einer Entchristlichung einher, die man kausal in beide Richtungen deuten kann. Wurde die Gesellschaft reich, insofern sie sich vom wahren Glauben entfernt, oder entfernte sie sich vom wahren Glauben, insofern sie reich wurde? In jedem Fall führt die Befolgung christlicher Gebote zu einer Gesellschaft, in der es weniger Unruhe und Unfrieden gibt, und dies begünstigt natürlich auch die Wirtschaft. Es ist also nicht aus der Luft gegriffen, diesen Zusammenhang zu postulieren. Wenn man sich an Max Webers These hält, dass der moderne Kapitalismus seine Wurzeln im Calvinismus habe, und man erkennt, dass die ersten großen Industrienationen allesamt protestantisch waren (England, USA, Preußen) oder sich einem radikalen Laizismus als eine Art Staatsreligion zugewandt hatten (Frankreich), während Spanien, Italien, Portugal und andere katholische Staaten ökonomisch zunächst nicht mithalten konnten, drängt sich der Verdacht auf, dass besonders der Protestantismus sehr gut mit Reichtum zusammengeht, während ein unangepasster Katholizismus zu sehr auf jenseitige Dinge konzentriert ist, um es zu großem Reichtum zu bringen. Doch hier wäre, wie gesagt, historische und soziologische Untersuchung erforderlich, die über den Kontext eines Blogartikels hinausgeht.
Martin Mosebach bemerkte, dass heute die wohlsituierten Bürgerlichen eher christlich seien als die „Unterschicht“, während die Armen früher besonders fromm waren. Woran könnte das liegen?
Alle materiellen Dinge sind für sich betrachtet moralisch neutral. Geld ist weder gut noch böse. Aber allen weltlichen Dingen wohnt die Gefahr inne, dass man sich zu sehr auf sie konzentriert und dabei das Wesentliche vergisst. Doch Armut bringt seine eigenen Leiden mit sich, wobei man ganz fein unterscheiden muss zwischen dem, was in der westeuropäischen politischen Diskussion „Armut“ genannt wird, und tatsächlicher absoluter Armut, wie sie in anderen Teilen der Welt existiert. Was wir hier „Armut“ nennen, ist in Wahrheit historisch gesehen schon Reichtum. Der ärmste Deutsche ist nach globalem Maßstab überdurchschnittlich reich. Hier haben wir nur „relative Armut“, also Armut in Bezug auf den lokalen Lebensstandard. Es ist ganz wichtig, diese beiden Arten von Armut zu unterscheiden.
Wer absolut arm ist, vielleicht gerade genug zu essen und zu trinken hat, oder nicht einmal das, besitzt praktisch keine materiellen Dinge, die ein Verbleiben im bloß Diesseitigen attraktiv machen könnten. Eine große Quelle der Versuchung ist hier fast völlig ausgetrocknet.
Wer hingegen nur verglichen mit dem Wohlstandsniveau in Deutschland in „relativer Armut“ lebt, ist immer noch reich genug, um sich so viele materielle Dinge leisten zu können, dass die reine Diesseitigkeit immer noch eine sehr große Versuchung darstellt. Fast alle Angehörigen der sogenannten „Unterschicht“ haben einen Fernseher, die meisten haben Computer und Internet, ein Handy und vieles mehr. Sie sind global gesehen gar nicht arm, sondern vielmehr überdurchschnittlich reich. Sie sind mit mehr materiellem „Zeug“, mit mehr Ablenkungen vom Wesentlichen, ausgestattet, als diejenigen, auf die Jesus sich bezog, als er vom Kamel und vom Nadelöhr sprach. Alle Gefahren, die mit Reichtum verbunden sind, treffen auch die „relativ Armen“. Und es kommt noch eine weitere Gefahr hinzu. Weil sie in einer Oase des Reichtums leben, in dem selbst ihr Wohlstand noch arm wirkt, sind sie einer starken Versuchung ausgesetzt, die reicheren Bürger zu beneiden. Sie sind nicht nur von der bloßen Weltlichkeit und ihrem „Zeug“ bedroht, sondern auch noch vom Neid. Jeden Tag sehen sie „die Reichen“. Der absolut arme Bauer weiß vielleicht auch, dass es solche Reiche gibt, aber sie leben nicht in seinem Dorf, er nimmt sie nicht täglich wahr, sie sind nicht überall um ihn herum.
Für die heutigen Armen in Deutschland kommen also zwei große Gefahren zusammen. Es ist schon schwer, Jesus auf dem Weg zum Kreuz zu folgen, wenn man so viele materielle Dinge hat, durch die man sich ablenken lassen kann. Es ist auch schwer, dies zu tun, wenn man ständig der Versuchung zum Neid ausgesetzt ist. Doch beides zusammen macht die Aufgabe noch weitaus schwieriger.
Es ist das große Verdienst des modernen Wohlfahrtsstaates, eine Gesellschaft zu schaffen, in der objektiv gesehen die Reichen die Superreichen um ihren Reichtum beneiden. In einer solchen Gesellschaft sind die Armen und die Reichen gleichermaßen fähig, über ihrem materiellen Wohlstand das Wesentliche zu vergessen; die Armen sind zusätzlich neidisch. Es verwundert nicht, dass eine solche „relative“ Armut keine Stütze für den christlichen Glauben mehr ist.
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Es blieben noch viele interessante Fragen zu stellen, was aber auf einen späteren Artikel verschoben sei, wenn ich dazu gekommen bin, über weitere Aspekte dieser Thematik nachzudenken.